Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 6: Privilegierung als Dienst am Allgemeinwohl
Demokratie im finalen Stadium des Etatismus
von Stefan Blankertz
Mit der Demokratie hat die Machtrationalität bei der Entfaltung der Staatsgewalt ihre höchste Ausprägung erhalten. Zugleich zeigt sich, dass es nicht möglich ist, der Staatsgewalt ein sowohl menschliches Antlitz als auch eine (ökonomische) Funktionalität zu verleihen.
Jedem Staat diktiert die Machtrationalität, dass bestimmte (mächtige) Interessengruppen an den Vorteilen der institutionalisierten und monopolisierten Gewalt beteiligt werden müssen. Dies ist die Stabilisierung der Herrschaft durch Privilegierung (siehe Teil 4 der Serie zur Staatsentstehung und -entwicklung). Selbst in scheinbar starren Verfassungen des Staates wie in der Aristokratie werden ausgewählte Personen zu Adeligen ernannt oder nichtadelige Personen erhalten Privilegien, sofern sie stark genug sind, die Staatsgewalt ernsthaft herauszufordern, falls ihre Interessen übergangen würden. In der Demokratie erfährt die Privilegierung eine ganz spezielle Institutionalisierung: Die verschiedenen Interessengruppen ringen coram publico um das Recht, aus der Beute (dem Steuergeld) einen Anteil zu erhalten oder sich mittels Einflusses auf die Gesetzgebung Vorteile zu verschaffen. Die Währung, mit der dieser Kampf ausgetragen wird, lautet Allgemeinwohl. Die an der Machtbeteiligung interessierten Gruppen müssen ihr Einzel- (Partikular-) Interesse als im Interesse der gesamten Bevölkerung darstellen können. Auf diese Weise verlagert sich die Produktion von Ideologie aus den Händen der Staatsgewalt in die Hände der miteinander konkurrierenden Interessengruppen. Nicht mehr der Staatsapparat selber produziert die Ideologie, sondern die Interessengruppen liefern sie und können sich, insoweit sie sich durchgesetzt haben, der Mittel des Staatsapparats bedienen, um ihre Ideologie bestmöglich in Szene zu setzen.
Da jede Interessengruppe nicht nur ein Interesse am unmittelbaren Zugriff auf die Beute hat, sondern auch die Gesetzgebung in ihrem Sinne beeinflussen will, werden die rechtlichen Rahmenbedingungen ständig komplexer: Der Kampf der Interessengruppen treibt die Verrechtlichung der Gesellschaft mächtig voran. Zudem erfordern die schwierig auszuhandelnden Kompromisse zwischen den konkurrierenden Interessengruppen immer weitere, immer neue gesetzliche Regelungen. Das ursprüngliche aufklärerische, liberale und auch demokratische Versprechen, der Staat solle ein einfaches, gerechtes, für jeden Bürger verständliches Recht setzen, verkehrt sich im Laufe der etatistischen Entwicklung in sein ausdrückliches Gegenteil. Es ist ganz wichtig, zu verstehen, dass diese Entwicklung nicht auf die Böswilligkeit von bestimmten Akteuren der Staatsgewalt zurückgeht und bei der Wahl von anderen Akteuren verhindert werden kann; die Entwicklung hin zu komplexer und unverständlicher werdenden Gesetzeslagen lässt sich nicht vermeiden und kann bestenfalls verlangsamt werden. Außer in revolutionären Situationen lässt sie sich auch nicht umkehren.
Mit dem Kampf der Interessengruppen nimmt auch die Okkupation weiterer gesellschaftlicher Sphären durch die Staatsgewalt unvermeidlich zu. In jeder bisher von der Staatsgewalt verschonten Sphäre werden sich Interessengruppen finden, die denjenigen gleichgestellt werden wollen, die bereits an der Staatsgewalt und ihrer Möglichkeit, Vorteile zu verschaffen, partizipieren wollen. Gibt es eine Berufsgruppe, die noch nicht durch Zugangsschranken oder Monopolschutz profitiert, schaut sie neidisch auf solche Berufsgruppen, die bereits von der Staatsgewalt einverleibt worden sind.
Mit der demokratischen Form der Privilegierung, Verrechtlichung und Okkupation gelingt es der Staatsgewalt in einer atemberaubenden Weise, aufkommenden Protest zu neutralisieren und in einen kräftigen Schub für die Stabilisierung und den Ausbau der Staatsgewalt umzuwandeln: Denjenigen, die gegen die eine oder andere Ausprägung der Staatsgewalt Widerstand leisten, sei es mit Demonstrationen, sei es mit Barrikadenkämpfen oder sei es mit einer neuen Partei, macht die Staatsgewalt ein Angebot, das sie nicht ablehnen können: Auch ihr erhaltet einen Anteil an der Beute; hierfür zeigt ihr euch erkenntlich, indem ihr euch an der Ideologieproduktion zur Stabilisierung der Staatsgewalt beteiligt.
Wenn es möglich wäre, die Ressourcen der Staatsgewalt unendlich und schadlos auszudehnen, wäre die demokratische Organisation in der Tat die Krone der gesellschaftlichen Entwicklung. Allerdings funktioniert das nicht. Der erste Grundsatz einer jeden Staatsgewalt lautet, wie ich gezeigt habe, dass sich die Akteure der Staatsgewalt bei der Ausbeutung Zügel anlegen, auf dass die Produktiven weiterleben und weiterarbeiten können. Diese Zügel sind in der Demokratie freilich sehr locker. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren war zu beobachten, dass die demokratische Staatsgewalt eine gewisse Zügelung ihrer Ausgaben benötigte, um wieder handlungsfähig zu werden. Dies war die Stunde des allzu kurzen Einflusses der sogenannten Neoliberalen, die seitdem zum Schreckgespenst aller demokratischen Kräfte geworden sind. Obzwar ihnen effektiv nicht nur eine kleine Zeitspanne ihrer Wirksamkeit zur Verfügung stand, sondern sie darüber hinaus auch meist eher kleine bis gar keine wirklichen Einsparungen bei den Ausgaben erzielten, wird ihnen noch heute immer wieder vorgeworfen, wichtige soziale Leistungen der Staatsgewalt eingeschränkt zu haben. Das ist für die Akteure der Staatsgewalt überaus praktisch: Einerseits wissen sie, dass eine gewisse Zurückhaltung notwendig ist, andererseits können sie die Schuld für die Abweisung des Ansinnens von Interessengruppen, neue Zuwendungen zu erhalten, auf eine Instanz außerhalb der Staatsgewalt überwälzen: die de facto machtlosen Neoliberalen.
Mit der Privilegierung gelangt die demokratische Staatsgewalt an einen heiklen ökonomischen Punkt. Doch auch Okkupation und Verrechtlichung haben ihre Tücken. Die Inkorporation von zunehmend mehr sozialen Aufgaben in den Konnex der staatlichen Gewalt und die zunehmend undurchschaubarer werdenden rechtlichen Regelungen von mehr und mehr gesellschaftlichen Bereichen und individuellen Tätigkeiten schränken die Möglichkeiten der spontanen Ordnung lebensbedrohlich ein. Wenn, wie im Augenblick zu befürchten steht, es für jeden Atemzug in Zukunft nötig sein wird, einen Anwalt zu konsultieren, geht uns ganz wortwörtlich die Luft aus. Hier gelangt die Staatsgewalt momentan an einem für die Lebendigkeit gefährlichen Punkt; doch er kann umschlagen zu einer Gefährdung der Staatsgewalt: Die gewürgten Bürger könnten sich doch entschließen, nach einer Alternative Umschau zu halten.
Diese Alternative, die die Ur-Anarchie auf der Stufe der globalisierten wirtschaftlichen Welt zu erneuern vermag, trägt den Namen Anarchokapitalismus. Ihn behandle ich in meiner Kolumne nächste Woche.
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