Freiheitsverlust: Technik, die begeistert?
Wenn immer mehr menschliche Fähigkeiten verloren gehen
von Stephan Unruh
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Ich war in den letzten Wochen sehr beschäftigt – Sie werden
es (oder auch nicht) am Ausbleiben der Kolumne bemerkt haben. Grund hierfür
waren etliche Messen in China und Südostasien. Auf zweien davon waren wir mit einem
eigenen Stand vertreten, und zu einer davon sind wir mit dem Auto angereist. So
weit nicht ungewöhnlich und eigentlich nichts, was das Schreiben einer Kolumne
rechtfertigte, aber ich wurde dabei erstmals mit dem aktuellen Stand der
Automobiltechnik konfrontiert.
Dazu muss ich vielleicht voranstellen, dass ich selber in
China nicht Auto fahre und auch keines besitze. Grund hierfür ist zum einen der
mich leitende elitäre Dünkel, dass zu einem Auto auch zwingend ein Chauffeur
gehöre (der selbstredend nicht ich sein sollte), und zum anderen der Umstand,
dass die Umsetzung dieses Dünkels in China relativ einfach ist. Mit anderen
Worten: Taxi fahren (oder DiDi, On Time und was es da noch alles für
Plattformen gibt) ist hier dermaßen billig, dass sich ein Auto schlicht nicht
lohnt. Für längere oder spezielle Fahrten habe ich einen exzellenten Kontakt,
der mich auf Zuruf im Minivan überall hinfährt, wo ich hinwill beziehungsweise -muss.
So kann ich entspannt hinten arbeiten, während der Chauffeur vorne seinem
Handwerk nachgeht und mich schnell, sicher und bequem ans Ziel bringt.
Dieses Mal jedoch waren wir (das heißt mein Team und ich) im neusten Geely-SUV (Geely ist ein chinesisches Automobilunternehmen, das vor einigen Jahren Volvo übernommen hat und etwa zehn Prozent an Daimler-Benz hält) eines meiner Mitarbeiter unterwegs. Dabei saß ich (für mich) ungewöhnlicherweise auf dem Beifahrersitz und konnte also „live“ beim Fahren zugucken. Bemerkenswert, was da inzwischen alles angezeigt wird und aus welchen Perspektiven man das Auto beim Fahren beobachten kann. Das ständige Geblinke und Gewarne von wegen Einhaltens von Abstand, Fahrspur, Geschwindigkeitsbegrenzung würde mich als Fahrer jedoch extrem nerven. Dann aber kamen wir an und es ging ans Einparken. XiaoYong nahm die Hände vom Lenkrad, rief auf dem extragroßen Display ein Menü auf, woraufhin auszuwählende freie Parkplätze angezeigt wurden, von denen er einen antippte und – es passierte nichts. Zunächst zumindest. Nach etwa zehn Sekunden setzte sich das Auto selbständig in Bewegung und parkte flüssig und perfekt, völlig selbständig wie von Geisterhand im ersten Versuch ein.
Ich war baff. Die Sales-Mädels auf der Rückbank begeistert.
Mir war nicht aktiv bewusst, wie weit die KI beziehungsweise das selbstfahrende Auto schon ist. Es sind nun einmal zwei Paar Stiefel, ob nur man über etwas liest oder dieses Etwas dann in der Realität live erlebt. Den Einparkvorgang hatte ich mit einer Mischung aus Begeisterung, Erstaunen und Nervosität verfolgt, denn so ganz traute ich der Maschine freilich nicht. Die begeisterten Sales-Mädels hingegen waren sich sofort darin einig, dass sie genau so eine Funktion auch ganz dringend in ihren Autos bräuchten. Und dann ließ mich XiaoYongs Antwort, dass er auch nicht einparken könne und die im Autopaket enthaltene kostenfreie Funktion einer der Gründe gewesen sei, weshalb er sich für den Geely entschieden habe, aufhorchen und brachte mich zum Nachdenken.
Ich kann nämlich, trotz meines Dünkels, durchaus Auto fahren und selbstredend auch einparken, wenn vielleicht auch nicht ganz so perfekt wie die Geely-KI. Aber ich kann es. Und dann musste ich an eine der jüngeren Kolumnen von Markus Krall denken. Krall schrieb darin, dass es „fünf, für eine freie Ordnung notwendige Säulen“ gäbe: die Individualität, die Familie, das Eigentum, die Religion sowie Kunst, Kultur und Musik. Mir will scheinen, dass es noch einer sechsten Säule bedarf, nämlich die bestimmter Fähigkeiten. Zugegebenermaßen gehört Einparken nicht unbedingt dazu, und je nach Kulturlevel mögen sie unterschiedlich sein, aber Lesen und Schreiben beispielsweise sind heutzutage essenzielle Fähigkeiten, ohne die ein freies und selbstbestimmtes Leben nur noch schwer möglich ist.
XiaoYong und die Sales-Mädels werden dank Geely & Co
niemals das Einparken lernen. Denn für den Erwerb von Fähigkeiten – völlig egal,
welcher – muss man vor allem üben. Wenn die Übung von der Maschine übernommen
wird, dann wird sie der Mensch nicht erwerben – so einfach ist das. Was ist mit
all den anderen Fähigkeiten, die mehr und mehr von Maschinen übernommen werden?
Gerade im Bereich „Wissen“ erscheinen mir die immer weiter voranschreitende
Technologisierung und Digitalisierung als ein zweischneidiges Schwert.
„Ich muss das nicht wissen, ich kann das googeln“, ist beispielsweise ein Satz, den ich inzwischen mehrfach von Jugendlichen gehört habe. Das stimmt zwar einerseits, aber andererseits setzt auch das „Googeln“ ein gewisses Grundwissen voraus, wonach denn überhaupt gesucht beziehungsweise gegoogelt werden soll. Gefühlt ist es bei mir etwa 20 Jahre her, dass ich einen handschriftlichen Brief verfasst habe. Entsprechend sieht meine Handschrift aus und (das ist aber mangels Übung nur eine Vermutung) wird mir die Hand nach wenigen Sätzen wehtun. Je besser Diktierprogramme werden und je weniger man diese trainieren muss, desto weniger Menschen werden ihre Texte dann noch am Computer tippen. Seit in China beispielsweise Pinyin-Hilfsprogramme verfügbar sind – Pinyin ist eine lautmalerische Umschreibung des jeweiligen Zeichens –, welche die Zeichen eigenständig vorschlagen, steigt die Zahl der strukturellen Analphabeten im Land: Man muss die Zeichen nicht mehr selbst schreiben können, der Computer liefert das meiste Wissen. Pi mal Daumen oder, auf Chinesisch, „Chabudou“ reicht aus. Entsprechend halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass auch im Westen bald eine ähnliche Entwicklung einsetzen wird (und diese nicht allein dem Menschenimport aus zivilisatorisch rückständigen Gebieten geschuldet ist). Zumal zunehmend auch das Buch durch das Video/Audio ersetzt wird.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin sicherlich kein Technik- und Technologiefeind. Auch mir ist bewusst, dass alles in dieser Welt ein Trade-off ist – man könnte auch sagen: Alles hat seinen Preis. Jedoch will mir scheinen, dass wir an einem Punkt der Menschheitsgeschichte stehen, der eine relevante Bruchlinie markieren könnte, nämlich das Ende eines rund 200-jährigen Trends, in dem die Menschheit insgesamt immer wohlhabender und freier wurde.
Je mehr Tätigkeiten wir auslagern, desto mehr werden wir die mit diesen Tätigkeiten verbundenen Fähigkeiten verlieren. Das ist in vielen Fällen nicht weiter schlimm – aber es gibt eben auch durchaus Bereiche, in denen der gesellschaftliche breite Fähigkeitsverlust dramatische Folgen hätte. Schauen wir also genauer hin, was wir wo, wann und wie an die KI und andere technische Helfer auslagern – und wenn wir schon dabei sind, könnte der eine oder andere auch mal wieder das Einparken üben.
Kommentare
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