26. September 2023 18:00

Deutsche Staatsbahn Ein Zug, der nicht fährt, hat auch keine Verspätung

Die Transformation staatlicher Infrastruktur ist eine ehrgeizige Aufgabe

von Christian Paulwitz

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Bildquelle: Shangsapurba / Shutterstock.com Standard-Situation im ganzen Land: Verspätung und Ausfall der Staatsbahn

„Wir alle wollen eine funktionierende Bahn mit pünktlicheren Zügen. Deshalb bauen und modernisieren wir in den nächsten Jahren wie noch nie. Mit einem Ziel: Eine zuverlässige und klimafreundliche Bahn für alle. Für mehr Pünktlichkeit. Für mehr Klimaschutz. Und für unsere Zukunft.“ Wenn unmittelbar mit der Politik verknüpfte Staatsbetriebe Werbesendungen machen, sind sie von Satire nicht zu unterscheiden. Wie auch Nachrichten aus dem Staatsfunk. Da jedem, der in Deutschland an die Bahn denkt, als erste Assoziation „Verspätung“ in den Kopf schießt, kommt man in der Ansprache an einer Bezugnahme offenbar nicht vorbei. Doch dem überzeugten Sozialisten sei gesagt: Die Zukunft wird jedenfalls besser. Im maternalistischen Ton wird dem unmündigen Adressaten duzend versprochen, dass ganz viel gebaut wird, es mehr Züge geben wird und mehr „Mitarbeitende“, nicht etwa Mitarbeiter. Das ist passend, denn es klingt auch mehr nach Dahinwursteln als nach zielgerichteter Arbeit. Der Bedarf zur Erfüllung bürokratischer Anforderungen ist einzusehen, zumal demnächst sicher wieder zu prüfen ist, dass jeder Fahrgast vorschriftsmäßig eine Maske trägt. Dieser wiederum dürfte bei der Fahrt vor allem im Sinn haben, sein Ziel zu der ihm in Aussicht gestellten Zeit zu erreichen. Aber wer weiß, vielleicht erhöht die Aussicht, das Klima zu schützen, ja tatsächlich für manchen die Leidensfähigkeit.

Ich gestehe: Eigentlich geht mich das Thema gar nichts an, denn ich fahre nicht (mehr) mit der Bahn. Noch vor ein paar Jahren hatte ich versucht, wo es gepasst hat, Geschäftsreisen möglichst nicht mit dem Auto, sondern mit der Bahn zu machen, um Zeit für Arbeit während der Reisezeit zu gewinnen. Zum Teil hat das durchaus zufriedenstellend geklappt. Und mit dem Nahverkehrszug morgens ins Büro hatte ich mir hin und wieder etwas sportlichen Ausgleich mit einem Läufchen am Abend nach Hause verschafft. Seit dem Corona-Gedöns ist das alles vorbei. Ich habe keine Lust mehr, mich diesem System auszusetzen. Aber da ich mich gelegentlich mit Leuten treffe, die selbst eben mit der Bahn gereist sind, ist das Gesprächsthema immer wieder präsent. Und ja, es geht mich doch etwas an, weil ich schließlich zur steuerfinanzierten Subventionierung gezwungen werde. Ob mich ein kundenorientiertes, rein privatwirtschaftlich im Wettbewerb geführtes Bahnunternehmen wieder als Kunden gewinnen würde? Sehr wahrscheinlich. Wer die Privatisierung von staatlichen Betrieben der Infrastruktur fordert, dem wird sofort vorgehalten, welch katastrophale Konsequenzen Privatisierungsbeispiele der Vergangenheit zur Folge gehabt hätten. Doch dazu später.

Erst einmal ein Blick darauf, wie gut beziehungsweise schlecht die deutsche Bahn tatsächlich ist. Das kann ich als Außenstehender ja nicht einmal subjektiv aus eigener Erfahrung beurteilen. Im Dezember 2022 hieß es in der Presse, weniger als zwei Drittel der Fernzüge seien pünktlich, was nach Bahn-Definition heißt: Weniger als sechs Minuten Verspätung. Das Ziel liege bei 80 Prozent; nicht einmal das klingt für mich angesichts der Pünktlichkeitsdefinition im ersten Moment besonders ehrgeizig. Doch angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Verbindungen fragt sich, wie diese Schlagwort-Kennzahlen über den ganzen Betrieb überhaupt einzuordnen sind. Ein wunderbarer Vortrag des Informatikers David Kriesel auf einem Kongress des „Chaos Computer Clubs“ bringt dazu einige Erkenntnisse. In diesem Fall geht es um 25 Millionen „vorratsdatengespeicherte“ Halte in den deutschen Fernbahnhöfen mit geplanten und tatsächlichen Ankunftszeiten; Köln mit 350.000 Stopps als Bahnhof mit den meisten Ankünften. Allerdings wurden die Daten fast über das ganze Jahr 2019 gesammelt (da bin ich selbst auch noch mit der Bahn gefahren), wo es ja noch etwas besser gewesen sein soll als 2022, das als das schlimmste Jahr der Bahn gilt. Der Vortrag ist unten verlinkt und unbedingt zu empfehlen; völlig sachlich und unaufgeregt wird leicht verständlich durch die Welt der Datenanalyse geführt. Dazu ein Link auf die Webseite des Informatikers, wo es in ähnlichem Stil auch einen Vortrag über Erkenntnisse aus ebenso „vorratsdatengespeicherten“ Informationen der Seiten von „Spiegel online“ gibt und den Erkenntnissen, die sich daraus so gewinnen lassen. Schon etwas älter, aber im Grundsatz immer noch hochaktuell.

In der Analyse der Bahndaten erfährt man beispielsweise, dass der Nahverkehr eine Pünktlichkeitsquote von über 90 Prozent praktisch flächendeckend erreicht. Nicht ganz klar geworden ist mir dabei, ob die Daten auch die Züge anderer Betreibergesellschaften als der Deutschen Bahn enthalten. Sehr wahrscheinlich ja, da diese über die abgefragten Portale der Bahn aufgelistet werden und damit erfasst worden sein dürften, aber kein Hinweis kommt, dass man diese herausgerechnet habe. Aber letztlich ist das nicht entscheidend; die höhere Pünktlichkeit wird durch den Umstand begünstigt, dass die Strecken kürzer sind, aber auch – meine Vermutung – durch einen gewissen Wettbewerbsdruck aufgrund anderer Transportmöglichkeiten für regelmäßige Fahrgäste wie Pendler erzwungen. Neben dem regionalen Schwerpunkt der Unpünktlichkeitsstatistik, nämlich NRW, sind es die Fernverbindungen, die die Statistik runterziehen.

Da kommt dann dieser Satz von David Kriesel, den man als Zitat für alle möglichen anderen Fälle übernehmen und beherzigen kann: „Wenn ihr Analysen lest, die andere euch geben, dann ist es immer sehr wichtig zu riechen, worüber die anderen mit euch nicht reden möchten.“ – „Hier müsst ihr gucken“. Worüber redet die Bahn denn in ihren Pünktlichkeitsangaben nicht? – Über die Zugausfälle. „Komplettausfälle oder Teilausfälle werden – wie übrigens bei anderen europäischen Bahnen auch – nicht in Statistiken eingerechnet.“ Also regen Sie sich das nächste Mal, wenn der Zug nicht kommt, nicht gleich auf; immerhin ist er nicht unpünktlich, das müssen Sie doch wohl anerkennen. Spannend dabei in der Datenanalyse, dass ICEs die Züge sind, die mit weitem Abstand am häufigsten ausfielen, und zwar jeder zwanzigste! Die Wahrscheinlichkeit, dass einem das als Vielfahrer bei größeren Distanzen passiert, auf denen man den ICE womöglich noch ein- oder zweimal wechseln muss, ist also nicht nur „gefühlt“ sehr hoch.

Aus der Bürokratiesteuerung – und nicht durch den Erfolg beim Kunden – ergibt sich eine ganz eigene Logik. Um die Pünktlichkeitskennzahl zu verbessern, kann es sinnvoll sein, Züge – zumindest ab einem bestimmten Punkt – ausfallen zu lassen, anstatt Unpünktlichkeitsdaten weiter anzusammeln. Ein Zug, der eine Strecke hin- und zurückfährt, könnte ab einer gewissen Verspätung die letzten Haltestellen ausfallen lassen, um den Rückweg zumindest ab der letzten noch angefahrenen Haltestelle des Hinwegs wieder pünktlich abzufahren. Vielleicht ist das unter Umständen sogar für weniger Fahrgäste schmerzhaft und im Saldo der Kundennutzen die bessere Variante, das kann man pauschal gar nicht einmal sagen. Doch bei einem Staatsunternehmen ist es nicht der Kundennutzen, der zur Verbesserung drückt, um dem Optimum nahe zu kommen, sondern die Befriedigung von Kennzahlen, die man der Politik verkauft, damit sie von dieser akzeptiert werden. Denn letztlich ist diese für den Geldfluss zuständig.

Großartig für eine verantwortungsentledigte Betriebsführung sind dann noch direkte politische Eingriffe, wie die Gängelungsvorschriften bei der „Virenbekämpfung“, die offenkundig auf das Fahrgastverhalten Auswirkungen haben, oder gar politische Preisfestsetzungen wie das „49-Euro-Ticket“. Letzteres verändert nicht nur das Fahrgastverhalten, sondern torpediert auch konkurrierende Geschäftsmodelle wie Busverbindungen. Eine kosten- und nachfrageorientierte effiziente Ressourcenallokation ist mit nur wenigen staatswirtschaftlichen Eingriffen gänzlich unmöglich, da der Markt falsche Signale gibt und Fehlallokationen nicht entsprechend bestraft werden. Die ersatzweise Steuerung durch bürokratische Vorgaben wird immer wieder seltsame Blüten hervorbringen.

Es gehört daher zu den anspruchsvollsten Aufgaben, großflächige staatswirtschaftliche Infrastruktureinrichtungen aufzulösen und in echte privatwirtschaftliche, dem vollen Wettbewerb ausgesetzte Systeme zu überführen. Ich wüsste nicht, wo dies in den Jahrzehnten seit dem letzten Weltkrieg bis heute irgendwo in westlichen Industrieländern der Fall gewesen wäre. Weder bei diversen sogenannter Privatisierungsinitiativen von Eisenbahnen, noch von Telekommunikationsanbietern oder Wasserversorgern. Allenfalls hat der Staat seine Monopolstellung etwas gelockert, sich aber immer Aufsicht und Rahmensetzung vorbehalten und im allerbesten Einzelfall sich einer Rolle im ordoliberalen Sinne vorübergehend etwas angenähert. Dabei gab es immerhin durchaus Teil-Erfolgsgeschichten, wie im Telekommunikationsbereich, wobei der Impuls seinerzeit vom technologischen Umbruch ausging, der die Strukturbrüche erzwang, ohne dass sich jedoch der Staat als enger Rahmensetzer herausgenommen hätte; vielmehr hat er seine Rolle in der Zwischenzeit wieder erheblich ausgebaut.

Bei genauerem Hinsehen gab es keine Privatisierungsstory, wo eine beklagte Verschlechterung der Verhältnisse tatsächlich auf die Überführung in echte privatwirtschaftliche Marktbedingungen zurückzuführen gewesen wäre. Immer hat der Staat die Umsetzung gesteuert. Zur Staatswirtschaft gehört einerseits die Vetternwirtschaft, andererseits muss der Staat selbst unter günstigen Bedingungen der Versuchung erliegen, auftretende tatsächliche oder medial hochgespielte Transformationsprobleme nicht etwa abzuwarten, um die Entwicklung der besten Lösungen zuzulassen, sondern sich als Retter und Hüter der Zu-kurz-Gekommenen ins Spiel zu bringen und mit Mitteln des Zwangs einzugreifen, bevor aus einer völlig fehlgelenkten staatswirtschaftlichen Struktur ein effizientes System des Wettbewerbs einschwingen kann. Es muss schon ein großer Umbruch sein, der dies erzwänge.

Quellen:

Mehr Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Mehr Bahn für alle. (Deutsche Bahn Konzern, Youtube)

David Kriesel: BahnMining – Pünktlichkeit ist eine Zier

David Kriesel: Video und Folien meines 36C3-Vortrags „BahnMining“


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