Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 7: Eigentum, Freiwilligkeit, Opferschutz und Widerstand
Elemente einer poststaatlichen Anarchie
von Stefan Blankertz
Die prästaatliche Herrschaftslosigkeit in der Ur-Anarchie wurde durch den verwandtschaftlichen Beistand aufrechterhalten. Wo das Netzwerk der Verwandtschaft endete, geriet die Ur-Anarchie ins Trudeln. Darum kann die poststaatliche Anarchie nicht eine bloße Wiederherstellung der Ur-Anarchie sein. Die neue Anarchie muss alle Elemente des uranarchischen Rechts enthalten, sie aber auf einer höheren Stufe der Komplexität und Stringenz verwirklichen. Die Elemente des prästaatlichen Rechts – uns sowohl extra- als auch substaatlich wohlvertraut – sind: Eigentum, Freiwilligkeit, Opferschutz und Widerstand.
Eigentum: Das Eigentum übersteigt den bloßen Besitz durch die Anerkennung von – beziehungsweise die Rücksichtnahme auf – dessen Rechtmäßigkeit. Sowohl Thomas Hobbes als auch Jean-Jacques Rousseau hielten es nur für möglich, durch staatliches Gesetz zwischen „Ich kann alles, was ich begehre, in Besitz nehmen“ und „Außer das, was bereits jemand anderes in Besitz hat“ zu unterscheiden. In Wirklichkeit ist diese Unterscheidung – „natürlich“ – Tausende Jahre älter als der Staat. Sie ist verbunden mit arbeitsteiliger Produktion. Alles, was jemand findet, anfertigt, erjagt oder eintauscht, ist sein Eigentum. Niemand anderes darf es sich ohne dessen Zustimmung aneignen, sonst droht Konflikt. Das Erstaneignungsrecht ist so alt und so tief verwurzelt, es ist so einleuchtend und so bar einer sinnvollen Alternative, dass es keiner im heute sogenannten privaten Umfeld verletzen kann, ohne Empörung auszulösen: Das Gefundene oder Gefertigte, das Erjagte oder Erworbene gehört dem Finder, Produzenten, Jäger oder Käufer, es gehorcht ihm, es hängt ihm an, es kleidet ihn als sein Eigen wie eine zweite Natur, eine soziale Haut. Nur unter der Bedingung fortgesetzter Gewalteinwirkung (resptive später: Gewaltandrohung) kann eine Person oder eine Gruppe von Personen es als ihr Recht deklarieren, von den Findern, Produzenten, Jägern und Händlern alles beziehungsweise einen Anteil von deren Eigentum ohne Zustimmung und ohne Gegenleistung zu verlangen.
Die Behauptung von Sozialisten, in prästaatlichen Gesellschaften habe es kein Eigentum gegeben, gründet in einem eingeschränkten Eigentumsbegriff, der vier, in solchen Gesellschaften übliche Formen nicht abdeckt:
Erstens: Manche Produkte, die aus einer Kooperation wie etwa der gemeinsamen Jagd hervorgegangen sind, stehen allen Beteiligten nach gewissen Regeln zu, die dem Überkommenen geschuldet sind und darum nicht jedes Mal auf ein Neues ausgehandelt werden müssen.
Zweitens: Manche Produkte, speziell Mittel der Produktion, gehören einem (familiären) Verband gemeinsam und können insofern auch nicht individuell veräußert oder vererbt werden. Aber auch Familienbesitz ist Eigentum.
Drittens: An die Stelle des unmittelbaren Warentauschs (beziehungsweise des Tauschs Ware gegen Geld) tritt manchmal eine Geschenkwirtschaft. Dennoch kann sich niemand ohne Zustimmung des Produzenten der Produkte bedienen, selbst wenn die gegenseitigen Geschenkleistungen ritualisiert sind und erwartet werden.
Viertens: Manche Mittel der Produktion nutzen alle Mitglieder eines Habitats gemeinsam, aber sie stehen nicht auch Fremden offen. Auch die Allmende ist Eigentum, weil sie eine genau definierte exklusive Gruppe nutzen darf.
Dafür, dass von Eigentum gesprochen werden kann, ist entscheidend, dass eine Person oder eine definierte Gruppe das gesonderte exklusive Verfügungs-, Ge- beziehungsweise Verbrauchs-, Veräußerungs- und Nutzungsrecht innehat.
Ein solches Eigentumsrecht entsteht allerdings pragmatisch; es ist nicht hervorgegangen aus den Gehirnen von einem Gremium mit Logikexperten, die für alle denkbaren Fälle und Zeiten eine wasserdichte Definition liefern wollten. Solange Ressourcen im Überfluss vorhanden sind und eine Inbesitznahme keine Minderung des Zugriffs später Kommender bedeutet, macht es wenig Sinn, Eigentum an ihnen anzumelden. Vor allem gilt dies vor der Erfindung des Ackerbaus in der Neolithischen Revolution für den Boden. Nomaden haben keine Verwendung für ein stabiles Grundeigentum, höchstens gilt die allgemeine Regel der Erstaneignung, das heißt, dass ein Habitat, das ein Clan – vorübergehend – aktuell nutzt, nicht von einem anderen beansprucht werden kann. Das Grundeigentum bedarf einer Präzisierung des Erstaneignungsrechts durch die Tatsache der Nutzung. Das Flächenmaß „Morgen“ etwa ist der Boden, den ein Bauer von morgens bis mittags zu pflügen vermochte; deswegen auch Tagewerk genannt. Wiederum ist es bloß einer gewaltbereiten Bande möglich, sich das Vorrecht auf eine größere Fläche zu sichern.
Anerkennung von Eigentum ist Voraussetzung dafür, dass sich ein nichtstaatliches Recht herausbilden kann, denn nur ein solches ermöglicht es, überhaupt so etwas wie einen Schaden festzustellen und damit ein Opfer auszumachen. Opfer ist derjenige, dessen Eigentum ein Schaden zugefügt wird. Darunter fallen auch Körperverletzung und Tötung; sie verlangen nach Schadenersatz. Insofern entspricht Murray Rothbards abstrakter und für viele heute befremdlich klingender Terminus des Selbsteigentums exakt der ethnologisch ermittelten Entwicklung des Rechts. Eigentum bedeutet demnach die rechtmäßige Verfügung über sich selbst und über das Produkt der eigenen Arbeit sowie das Anrecht auf Schadenersatz, wenn es zu Beeinträchtigungen dieses Besitzes ohne die Einwilligung des Eigentümers kommt. An dieser Stelle leitet der Begriff des (Selbst-) Eigentums zu dem zweiten Kennzeichen prä-staatlichen anarchischen Rechts über: der Freiwilligkeit.
Freiwilligkeit: Den Begriff der Freiwilligkeit ziehe ich gegenüber anderen in der Ethnologie gebräuchlichen Begriffen, wie Gegenseitigkeit, Reziprozität und Gleichheit, vor. Freiwilligkeit ist auch ein weiter gefasster und nicht so formalisierter Begriff wie der des Vertrags; wobei der Vertrag sowohl Freiwilligkeit als auch Eigentum voraussetzt. Freiwilligkeit – oder Selbstbestimmung – beinhaltet wohlgemerkt auch einen Individualismus. Insofern keine Zentralinstanz mit Erzwingungsstab ihre Anweisungen oder Urteilssprüche durchzusetzen vermag, bleiben Zugehörigkeit und Gefolgschaft freiwillig, selbst wenn es aufgrund von Tradition oder auch Umständen schwerfällt, eine Sezession zu vollziehen. Ebenso ist der Ausschluss eine Funktion von Freiwilligkeit, insofern eine Gruppe, die man zwingt, ein Mitglied gegen ihren Willen zu dulden, nicht mehr freiwillig ist. Die Gleichheit ist eine der gleichen Freiheit, nicht eine numerische materielle Gleichheit oder eine Gleichheit an Autorität, Einfluss beziehungsweise Macht. Freiwilligkeit hat Eigentum zur Voraussetzung. Bei einer als Ultima Ratio eingesetzten Sezession beziehungsweise bei einem als Ultima Ratio eingesetzten Ausschluss ist entscheidend, was die Person oder Gruppe, die die Trennung vollzieht beziehungsweise die ausgeschlossen wird, als persönliches Eigentum mit sich führen darf. Aber auch in jedem Akt des Tausches oder des Schenkens bedarf es der Trennlinie, was ohne Zustimmung eines eventuellen Eigentümers in Besitz genommen, angeeignet werden darf und was eine Einwilligung sowie eventuell eine Gegenleistung erfordert. Freiwilligkeit bedeutet auf der anderen Seite auch, dass eine Gruppe eine Person als Ultima Ratio ausschließt, wenn man keine Einigung erzielt. Das Eigentum definiert dann, auf welche Güter die Gruppe keinen Zugriff hat, wenn der Ausgeschlossene die Gruppe verlässt und sein Eigentum behält.
Opferschutz: Das prästaatliche Recht geht vom Opfer aus, das einen Schaden geltend macht, eine Beschädigung an seinem Eigentum, für die es Restitution (Rückgabe) oder Kompensation (Ausgleich) erlangen will. Anders kann es nicht sein, denn es gibt ja keine zentrale Instanz, die ein abweichendes oder schädigendes Verhalten unabhängig von der Tatsache verfolgt, dass es einen Geschädigten gibt und dass das Opfer vom Täter eine Wiedergutmachung fordert. Im substaatlichen Rechtsempfinden ist das heute nicht anders als vor 10.000 Jahren und das, obwohl der Staat seit Jahrtausenden ein anderes Prinzip verfolgt: nämlich Anklage unabhängig vom Opfer, bisweilen gar ohne Opfer, und Bestrafung zugunsten der öffentlichen Hand beziehungsweise ganz nutzlos wie etwa durch einen Gefängnisaufenthalt oder eine Hinrichtung. Aber wem leuchtet ein, dass es einen Fortschritt der Zivilisierung und Gerechtigkeit darstellt, wenn Bußgeld an den Staat statt Wiedergutmachung an den Geschädigten gezahlt werden muss oder wenn man den Täter einsperrt, statt ihn zu zwingen, Wiedergutmachung zu leisten? Und doch verbinden sich mit „Selbstjustiz“, „sich Genugtuung verschaffen“ oder auch „Schuldknechtschaft“ vornehmlich Bilder grausamer, ungerechter Rache. Die heutige, dem natürlichen Rechtsempfinden entgegengesetzte fast völlige Außerachtlassung der Opfer durch die staatliche Justiz ist ein klares Anzeichen für die Übermacht des Staats, dessen Ansturm die Ur-Anarchie mit ihrem Recht machtpolitisch nicht standgehalten hat. Die Empfindung für das, was Recht ist, bleibt davon unbeschadet.
Widerstand: Die Vorstellung, dass das prästaatliche Recht sich automatisch oder mechanisch durchgesetzt habe, ist naiv und führt zu der Unterstellung, jedwede interne Tötung in einer prästaatlichen Gesellschaft sei ein Mord. Andersherum: Das Recht und die Anarchie ließen sich prästaatlich bloß durch Widerstand aufrechterhalten. Die prästaatliche Organisation des Widerstands durch das verwandtschaftliche Netzwerk (gleich segmentäre Opposition) stößt an die Grenzen der interethnischen Konflikte, sobald sie sich nicht mehr durch Flucht der unterlegenen Partei als Ultima Ratio regeln lassen.
Wie lassen sich diese Elemente des prästaatlichen Rechts unter den heutigen Bedingungen wieder zur Struktur der Gesellschaft machen? Diese Frage beantworte ich in der Kolumne nächste Woche.
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