Deutsche Parteienlandschaft: Was bewirkt die AfD?
Der „Blitzableiter“-Effekt
von Thomas Jahn
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Deutschland Anfang 2013: Der sehr knappe Mitgliederentscheid der FDP über einen Ausstieg aus der Euro-Rettung lag gerade mal ein Jahr zurück. Mit ihrem damals neuen Chef Mario Draghi legte die EZB endgültig alle Hemmungen ab und ließ die Druckerpressen auf Hochtouren rotieren. Mit den Rücktritten von Wulff und Schavan im Januar und Februar 2013 verlor Merkel wichtige „Vertraute“. Und dann drohte im März mit der Zypernkrise das nächste Euro-Fiasko. Die in den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP zuletzt stark gestiegene Zahl der „Rettungsgegner“ – wir erinnern uns vor allem an den Fall Bosbach – drohten im Falle Zyperns eine kritische Masse zu erreichen. Sollten wirklich die deutschen Steuerzahler die zypriotischen Bankkonten russischer Oligarchen retten? Tatsächlich erreichte die Zahl der „Euro-Rebellen“ in Merkels Regierungsfraktionen bei der Zypernabstimmung im April 2013 ihren bisherigen Höhepunkt. Auch die kritischen Stimmen an der CDU-Basis waren zu diesem Zeitpunkt unüberhörbar geworden, denn im Januar 2013 hatte die CDU die zwölfte Wahlniederlage in Folge kassiert und mit Niedersachsen das letzte große Flächenland im Westen verloren.
Doch Merkels Rettung nahte auf dem Fuße, als sich am 11. März 2013 im hessischen Oberursel mit über 1.000 Interessierten die neue Partei „Alternative für Deutschland“ konstituierte und Bernd Lucke, Frauke Petry und Konrad Adam zu ihrem Sprechertrio wählte. Bernd Lucke war erst vor Kurzem aus der CDU ausgetreten, der er 30 Jahre lang angehört hatte. Der aus Niedersachsen stammende Lucke hatte dort im Januar 2013 erfolglos für den Landtag kandidiert, und zwar für die Freien Wähler, mit denen er ursprünglich eine neue, eurokritische, bundesweit agierende Partei etablieren wollte. Der Plan scheiterte an persönlichen Querelen zwischen den handelnden Personen, wahrscheinlich vor allem an der exzentrischen Figur des bayerischen Chefs der Freien Wähler Hubert Aiwanger.
Die AfD-Gründung als „Blitzableiter“?
Die Gründung der AfD war vielleicht das Beste, was Angela Merkel in ihrer schwierigen politischen Situation Anfang 2013 passieren konnte: Die AfD konnte sich mit Ökonomieprofessor Bernd Lucke, dem ehemaligen BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel und der Unternehmerin Frauke Petry als Partei mit wirtschaftlichem Sachverstand präsentieren. Damals hatten selbst linke SPD-Politiker wie Ralf Stegner zunächst Hemmungen, die neu gegründete AfD als rechts zu bezeichnen, zu sehr erinnerte die Gründungsversammlung an ein Dreikönigstreffen der FDP, als sie noch in der Opposition war. Tatsächlich konnte die AfD vor allem der FDP zunächst viele Stammwähler abjagen, sodass die Freien Demokraten bei der Bundestagswahl im Herbst 2013 prompt an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Merkel war einen unbequemen Partner los und konnte ihre linksgerichteten politischen Ziele in Sachen Euro und Zuwanderung in einer Koalition mit den Sozialdemokraten umsetzen, ohne um ihre Kanzlermehrheit bangen zu müssen.
Die CDU-Führung konnte die AfD schon kurz nach ihrer Gründung auch als Instrument zur Disziplinierung von „Rechtsabweichlern“ in den eigenen Reihen einsetzen, nach dem Motto: „Wage es nicht, die Positionen der AfD in der CDU weiter zu vertreten, denn damit schadest du den Wahlchancen der Union.“ Darüber hinaus konnte man allen „Widerstandsgruppen“ in der Union, wie der 2010 gegründeten und zunächst erfolgreich operierenden „Aktion Linkstrend stoppen“ das Wasser abgraben, weil eine große Zahl von Merkel-Kritikern die CDU verließ und folglich nicht mehr als Störenfriede in der Partei andere Mitglieder „anstecken“ konnte.
Die Anfangserfolge der AfD, wie ihr 2013 fast gelungener Einzug in den Bundestag, nur wenige Monate nach Gründung der Partei, waren erstaunlich. Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass vor allem Bernd Lucke seit März 2013 ständiger Gast in Fernsehtalkshows und Interviewpartner einer Vielzahl wichtiger Zeitungen war. Hatte sich das Medienestablishment, das die kritischen Stimmen in der Union und neue politische Gruppierungen im bürgerlichen Lager seit Jahren völlig ignorierte, plötzlich eines Besseren besonnen und sich vom Saulus zum Paulus gewandelt?
Parteineugründungen erfüllen im behäbigen deutschen Politikbetrieb der etablierten Parteien, deren Führungspersonal sinnbildlich einem Zug gleicht, der seit Jahren immer nur unentwegt in dieselbe Richtung – nämlich Euro-Zentralismus, mehr Regulierung und mehr Zuwanderung fährt – eine wichtige Funktion: die eines Blitzableiters. Dem immer müder werdenden Wahlvolk wird der Eindruck vermittelt, es gäbe endlich wieder eine neue, glaubwürdige und unverbrauchte politische Kraft. Gleichzeitig ziehen neue Parteien unzufriedene und gefährlich aufsässig werdende Mitglieder aus den bisherigen Parteien ab und absorbieren damit unbequeme Konflikte über den Kurs bestimmter etablierter Parteien. Die AfD konnte sich, wie zuvor die Piratenpartei, plötzlich einer medial, nicht allzu kritischen Dauerpräsenz erfreuen, die wie durch Wunderhand im Vorfeld der Europawahl 2014 geschaffen wurde.
Die Sache hat nur einen Haken: Die neue Partei darf nicht zu erfolgreich werden, um nicht die Möglichkeit von Koalitionsbildungen jenseits der jahrzehntelang eingeübten linken Generallinie zu ermöglichen.
Als daher erste Umfragen im Vorfeld der Europawahl 2014 der AfD den sicheren Einzug ins Europaparlament prognostizierten, wurden aus den Kritikern der Euro-Rettung schnell die „Euro-Hasser“, wie die „Bild“-Zeitung damals titelte. Die biederen Professoren oder Persönlichkeiten wie der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, die nun ins Europaparlament einzogen, entsprachen freilich gar nicht diesem Bild.
Wann wurde aus der AfD eine „rechtsradikale Partei“?
Im März 2015 formierte sich, ausgehend von den AfD-Landesverbänden in Thüringen und Sachsen-Anhalt Widerstand gegen den liberal-konservativen Kurs der Parteiführung. Björn Höcke, seit 2014 Fraktionschef der AfD im Thüringer Landtag forderte in der von ihm angestoßenen „Erfurter Erklärung“, dass die AfD keine verbesserte CDU werden dürfe. Sie müsse vielmehr eine „fundamental-oppositionelle Bewegungspartei“ sein. Daraufhin leitete der AfD-Bundesvorstand ein Parteiausschlussverfahren gegen Höcke ein, das nach der Abwahl von Bernd Lucke als Parteisprecher im September 2015 eingestellt wurde. Die merkwürdig zweideutigen Reden Höckes und das erneut im Jahre 2017 von Frauke Petry gegen Höcke beantragte Parteiausschlussverfahren, das ebenfalls scheiterte, sind hinlänglich bekannt.
Wahrscheinlich wäre Höcke in der AfD ein Randphänomen geblieben, hätte nicht Angela Merkel mit ihrer viel kritisierten Entscheidung zur unkontrollierten Aufnahme von Millionen Migranten seit dem Sommer 2015 für ein neues Thema gesorgt, das der AfD, die nach Luckes Abwahl gespalten war und in Umfragen unter fünf Prozent lag, gewaltigen Auftrieb verschaffte.
Dieser weitere Linksschwenk der Unionsführung sorgte jetzt nicht nur für den schon erwähnten Blitzableiter-Effekt, sondern mit der Übernahme des linken Narrativs – hier die weltoffenen Freunde einer humanen Flüchtlingspolitik, dort die rechtsextremen Ausländerfeinde – gelang es auch, die zuwanderungskritische Mehrheitsmeinung unter den eigenen CDU-Mitgliedern zu unterdrücken. Oder kurz auf einen Nenner gebracht: Merkel und Höcke nutzten einander und spielten sich gegenseitig politisch in die Hände.
Die Massenmigration bescherte dem von Höcke gegründeten „Flügel“ mit seinen als „völkisch“ kritisierten Warnungen vor einer „Umvolkung“ und „Überfremdung“ einen gewaltigen Auftrieb, vor allem in den neuen Bundesländern.
Und vom zweiten Aufstieg der AfD profitierte vor allem wiederum Angela Merkel, mit ihrer Vorstellung von einer nach links ausgerichteten CDU: Denn als Koalitionspartner der Union blieben jetzt nur noch nicht bürgerliche Parteien, links der Mitte, da Union und FDP seit 2015 bei keiner Wahl (Ausnahme Nordrhein-Westfalen 2017) eine Mehrheit erzielen konnten. Und auch umgekehrt profitierten von der seit 2015 einsetzenden pauschalen Ausgrenzung der AfD vor allem Höcke und der rechte Flügel der Partei, weil eine vor allem von den Leitmedien als rechtsradikal eingestufte Partei in Deutschland nicht koalitionsfähig sein darf. Folglich blieb der AfD nur noch Höckes Rezept einer Fundamentalopposition, frei nach dem Sprichwort: „Ist der Ruf erst ruiniert, …“
Merkels Ziel, die eigene Machtposition durch Disziplinierung einer mehrheitlich andersdenkenden Parteibasis zu stärken, ging allerdings nicht auf, denn sie ließ die Reaktionen aus SPD, Grünen und Linkspartei außer Acht. Seit 1998 lösten Koalitionen zwischen diesen Parteien in Ostdeutschland und seit einigen Jahren auch in Westdeutschland keine Skandale mehr aus. Die linken Parteien konnten also bei jeder sich bietenden Mehrheitslage bequem eine Regierung auf Landesebene bilden. Die Union war außen vor. In allen übrigen Ländern und im Bund war die Union auf maximale Zugeständnisse an Grüne oder SPD angewiesen, was die AfD natürlicherweise als ihre Kraftquelle betrachtet. Anstatt die großen programmatischen Schnittmengen zu erkennen, beteiligen sich CDU und CSU jedoch lieber auch an den außerparlamentarischen Ritualen zur Ausgrenzung der AfD. Die Union demonstriert vielerorts mittlerweile lieber im Verein mit SPD, Grünen und Linkspartei gegen die AfD, als auf die Bedürfnisse der eigenen Stammwähler einzugehen. Die meisten Unionspolitiker merken dabei nicht einmal, wie sie durch den Kakao gezogen werden, dabei ihre eigenen Wähler verprellen und sich zum Mehrheitsbeschaffer einer autoritär-linken Politik degradieren lassen.
Fazit: Die Politik einer Linksverschiebung der Union ist auch aus wahlarithmetischen Gründen gescheitert. Die von Merkel ausgerufene und von Friedrich Merz übernommene Politik der „Brandmauer gegen die AfD“ hat vor allem in den neuen Bundesländern zu Wahlergebnissen geführt, bei der sich der frühere, allein auf die Union entfallene Stimmenanteil zunächst zwischen AfD und CDU aufteilte. Neuerdings könnte die AfD bei den 2024 bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, angesichts der aktuellen Umfragen, sogar als stärkste politische Kraft den zahlenmäßigen Status einer Volkspartei, also Wahlergebnisse von mindestens 30, 35 Prozent oder mehr erreichen. Denn das Konzept der Fundamentalabgrenzung hat sich totgelaufen. Dank des wirtschaftlichen Zerstörungskurses der Ampelparteien, dank der ungelösten Migrationskrise und immer höherer Steuern haben die Wähler das Vertrauen in diejenigen Parteien, die das Land seit 1998 ununterbrochen regieren, weitestgehend verloren. Sie sind über die gesamtpolitische Entwicklung in Deutschland so frustriert, dass sie sich von der Wahl der AfD nicht mehr abschrecken lassen. Es bleibt trotzdem spannend, denn neue politische „Blitzableiter“ sind schon wieder in Sicht: Die am Boden liegende, mehrfach umbenannte SED könnte demnächst bedeutungslos werden und durch eine neue „Wagenknecht-Partei“ abgelöst werden, die den Höhenflug der AfD „von links aus“ stoppen könnte. Ähnliches könnte der AfD auch aus dem bürgerlichen Spektrum drohen: Käme es zu einer Abspaltung der Wertunion von der CDU, könnte diese neue Partei entweder als Brücke zwischen Union und AfD fungieren oder das Wählerpotenzial der AfD entscheidend dezimieren. Eine Konstante wird bleiben: Die linke Dominanz in den deutschen Medien und Funktionseliten hat ein entscheidendes Lebenselixier: die Zersplitterung des nichtlinken politischen Lagers. Man kann sicher sein, dass sich die deutsche Linke diese Machtbasis nicht ohne Weiteres nehmen lassen wird.
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