06. Oktober 2023 08:00

Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 8 Anarchie als Hort des Rechts

Die Alternative: Anarchokapitalismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Prachaya Roekdeethaweesab / Shutterstock Ein stolzes Kriegervolk: Somali halten bis heute in Teilen am prästaatlichen Gewohnheitsrecht fest

Die Möglichkeit einer poststaatlichen neuen Anarchie unter Bedingungen hochkomplexer und hochintegrierter globalisierter Handelsbeziehungen sowie stark verbreiteter kultureller Inhomogenität mit gegenseitiger Durchdringung hat der Anarchokapitalismus formuliert – nämlich eine nicht monopolisierte Rechtsprechung durch Schlichter und Mediatoren sowie die Bereitstellung von Schutz und Regulierung von Konflikten mithilfe nicht monopolisierter Unternehmen oder anderer freiwilliger Organisationen, Vereine und Genossenschaften, von Sicherheits-, Rechts- oder Verteidigungsagenturen – also, welche Form auch immer Menschen für die Vertretung ihrer Interessen bevorzugen. Deren Prinzipien lauteten:

  • Schlichter bieten ihre Dienstleistungen auf dem Markt an.
  • Die Inanspruchnahme einer richterlichen Dienstleistung erfolgt vertragsbasiert. Prozesse werden durch die Konfliktparteien (beziehungsweise ihre Versicherungen) finanziert.
  • Die Regulierung aller Konflikte geschieht unter dem Primat der Einigung oder der Wiedergutmachung (Restitution und Kompensation).
  • Die Mitgliedschaft in einer Sicherheits-, Verteidigungs-, oder (Rechts-) Schutz-Organisation (Agentur) ist zwanglos. Bei einer Unzufriedenheit – aus welchem Grunde auch immer – darf jeder austreten.
  • Rechtsinstanzen (Richter, Polizisten) sind ihrerseits für Schäden haftbar, die sie bei der Durchsetzung des Rechts eventuell verursachen.

Im Folgenden gehe ich auf die wichtigsten mir bekannten kritischen Rückfragen in Bezug auf die Idee des Anarchokapitalismus ein.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass sich wiederum ein Monopolist herauskristallisiert? Falls es einer der Agenturen gelingen sollte, ihre Dienstleistung mit höchster Sicherheit zu niedrigsten Beiträgen anzubieten, könnte sie Alleinanbieter in einer Region oder gar rund um den Globus werden. Das wäre unproblematisch, solange der Anspruch bestehen bliebe, auszutreten, falls sie nach der (fehlbaren) Ansicht von Kunden ihre Leistung reduziert oder ihre Beiträge „über Gebühr“ erhöht. Nicht bloß die ökonomischen Analysen Ludwig von Mises’, sondern auch die empirischen Studien des Marxisten Gabriel Kolko zeigen uns allerdings, dass historisch gesehen wirtschaftliche Monopolisierung über Interventionen des Staats vonstattenging und sich nicht auf dem freien Markt ergab.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass ein Alleinanbieter sich gegen Austritte wehrt und Personen dann gegebenenfalls mit Gewalt am Austritt hindert (Vermafiaisierung)? Das ist nicht undenkbar. Aus dieser Möglichkeit allerdings ein „Recht“ herzuleiten, die Phasen der Herausbildung eines Alleinanbieters bis hin zur Konstituierung eines protostaatlichen Monopolzwangs zu überspringen und unvermittelt einen Staat mit gewaltsamer Rechtsprechung und Sicherheit zu errichten, ist unlauter – denn es handelt sich um eine hypothetische Möglichkeit und nicht um eine erwiesene Notwendigkeit mit Zwangsläufigkeit. Ob die Monopolisierung tatsächlich eintritt, hängt zum Beispiel davon ab, ob es hinreichenden Widerstand gegen eine eventuelle Re-Etatisierung gibt. Keine Sozialstruktur würde sich automatisch oder mechanisch, also ohne Widerstand reproduzieren. Auch die Demokratie funktioniert ja nicht ohne eine Mindestzahl an Demokraten. Die idealtypische Mehrheit (das heißt meinungsbestimmende gesellschaftliche Gruppe) kann sie eben mal so abschaffen. Die neue poststaatliche Anarchie verfügt jedoch über deutlich mehr Widerstand als die Demokratie: Es gäbe keine zentrale, zur Erzwingung von Gefolgschaft berechtigte und fähige Instanz, die eine an Re-Etatisierung interessierte Gruppe erobern könnte, wie es etwa in den USA während der Zeit des Bürgerkriegs geschehen ist: Ohne den bereits vorhandenen Zentralstaat wäre die Verweigerung der Sezession unmöglich gewesen oder zumindest deutlich schwerer gefallen.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass Selbstjustiz mit Chaos, Mord und Totschlag um sich greift? Selbstjustiz wird sich im Rahmen des Rechts bewegen müssen, denn insofern jemand bei der Selbstjustiz das Maß der Restitution oder Kompensation übersteigt, könnten sich Opfer beziehungsweise deren Angehörigen oder andere Rechtsvertreter via Agentur oder Gericht wehren. Dies ließe auch das Rechtsbewusstsein steigen, da die Rechtssicherheit zunähme. Organe der Rechtssicherung würden nicht mehr Angst, sondern das, was sie versprechen, verbreiten: Gefühle der Sicherheit.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass „ewige“ Fehden stattfinden? Genau nicht, weil eine Rechtverfolgung, die das Maß von Wiedergutmachung nicht einhält, ihrerseits als Rechtsverletzung geahndet werden dürfte. Wie im Frieden der Ur-Anarchie des prä-staatlichen Rechts gäbe es wenig Anreize zur Fehde oder für mafiöse Strukturen.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass ein Nachbarstaat der anarchokapitalistischen Enklave diese schnell übermannt? Das hängt von drei Faktoren ab:

Erstens: Wie zivilisiert – oder unzivilisiert – ist dieser Nachbarstaat?  

Zweitens: Wie gut – oder schlecht – verstehen sich in der poststaatlichen Enklave die Menschen und ihre Organisationen auf das Verhandeln mit einem aggressiven Nachbarstaat? 

Drittens: Wie wehrfähig und -bereit sind sie, falls ein Nachbarstaat dennoch angreifen sollte?

Aber auch kein Staat ist per se in der Lage, seine Bürger vor Eroberung durch Fremde zu schützen – so etwa hat der belgische Staat seine Bürger weder 1914 noch 1940 vor dem Überfall durch deutsches Militär schützen können. Umgekehrt gibt es einen empirischen Zusammenhang zwischen dezentraler Sozialstruktur und Widerstandspotenzial. 1999 fragte ich Michael van Notten, den niederländischen Rechtsberater der gegen Zentralstaat und Vereinte Nationen aufbegehrenden Somali, auf der Konferenz der „International Society for Individual Liberty“ in Costa Rica rhetorisch, ob nicht die Weigerung der Somali, sich einem Zentralstaat zu unterwerfen, den Nachbarstaat Äthiopien animieren könnte, sich Land und Leute einzuverleiben. Weise lächelte Michael und sagte: „We [sic!] Somalis are warriors. And ‚they‘ know it.“ Mit „they“ sind natürlich „the Ethiopians“ gemeint. Michael starb 2002; posthum ist sein wichtiges Buch „The Law of the Somalis“ erschienen, in dem er das bis heute in Teilen von Somalia noch praktizierte prästaatliche Rechtssystem beschreibt.

Würde Anarchokapitalismus darauf hinauslaufen, dass es sich nur Reiche leisten können, ihr Recht durchzusetzen? Es sei daran erinnert, dass Zentralinstanzen nicht aus Reichtumsunterschieden entstehen, vielmehr wird umgekehrt die ungleiche Verteilung der Produktion durch die zentrale Organisation bestimmt (laut dem marxistischen [!] Ethnologen Christian Sigrist); die politische Beziehung der Macht geht also der ökonomischen Beziehung der Ausbeutung voraus (so formuliert es der Ethnologe Pierre Clastres). Diese politische Beziehung der Macht markierte den Beginn der Staatsentstehung und endet erst dann, wenn eine poststaatliche neue Anarchie entsteht.


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