20. Oktober 2023 08:00

Nahostkrieg Die Null-Staaten-Lösung

Krieg nährt den Staat

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Jose HERNANDEZ Camera 51 / Shutterstock Jeder Tote in einem Krieg oder Konflikt ist einer zu viel: Wie viele Kerzen braucht es noch, bis in den Menschen diese Erkenntnis dauerhaft reift?

Jede Seite präsentiert die durch die Gegner begangenen Grausamkeiten und meint, auf diese Art die eigene moralische Unangreifbarkeit belegen zu können. Vernünftige Menschen würden daraus schließen, dass Krieg auf beiden Seiten Opfer produziert und keine Moral kennt. Doch Krieg kennt keine vernünftigen Menschen. Er spaltet in Freund und Feind. In einer globalisierten Welt wird aus der Spaltung im regionalen Herd des heißen Kriegs die Spaltung eines weltweiten kalten Kriegs. In der Presse, in den sozialen Medien, im Freundeskreis bezieht man Stellung, obzwar man keinen Einfluss auf die Ereignisse, nicht einmal Einfluss auf die eigene Regierung hat.

Aller Opfer gedenken? Undenkbar, damit zeigst du dich als jemand, der auf der falschen Seite steht, auf der Seite der Mörder und Vergewaltiger. Wer schweigt, macht sich somit mitschuldig. Denn im Krieg geht es nun mal ruppig zu, wo gehobelt wird, da fallen Späne, für die richtige Sache muss man auch mal fünfe gerade sein lassen und es mit der Moral nicht so genau nehmen. Vernünftige Menschen würde aus dieser Argumentation schließen, dass es beim Krieg eben nicht um Moral gehen kann. Doch Krieg kennt keine vernünftigen Menschen. Moral ist nur noch Ideologie, um die eigene Sache zu verbrämen. Ich kenne keinen, der es, in dieser abstrakten Form präsentiert, anders sieht. Doch bei der Anwendung auf einen konkreten Kriegsfall setzt das Denken sofort aus.

Die Logik des Kriegs folgt zwingend aus der Machtrationalität des Staats, wie ich sie in der aktuellen Freiheitsfunken-Serie darlege. Ich unterbreche sie für diese Anwendung auf den neuerlich ausgebrochenen Krieg im Nahen Osten. (Wie die aktuelle politisch korrekte Bezeichnung lautet, weiß ich nicht. Ich bin aufgewachsen mit ihr und bleibe bei ihr.)

Zur kurzen Erinnerung: Ein Staat ist gekennzeichnet durch einen Erzwingungsstab, der in einem gewissen Territorium das Gewaltmonopol beansprucht. Die Anerkennung durch irgendwen ist keine Voraussetzung. In diesem Sinne ist die Hamas im Gazastreifen ein Staat. Eine Organisation, die das Gewaltmonopol anstrebt, aber (noch) nicht innehat, nenne ich Protostaat.

Krieg zwischen Staaten bricht aus, wenn beide Seiten es so einschätzen, dass aus dem Krieg für sie mehr Vorteile als Schäden entstehen. Um die Repression der eigenen Bevölkerung zu legitimieren, bedarf der Staat stets der Feinde. Friedenszeiten haben für Staaten den Nachteil, dass die Bevölkerung dazu tendiert, aufsässig zu werden, die Gewalt des Staats infrage zu stellen, ihre Reduktion in Betracht zu ziehen, und die Behörden ganz allgemein dazu auffordert, sie in Ruhe zu lassen. Die beste Abhilfe schaffen da äußere Feinde, weil man sie am leichtesten stigmatisieren kann. Äußere Feinde bieten sich darum an, weil innere Feinde unsichtbar sind und weil der Feind im Inneren die Bevölkerung spaltet, also den Staat schwächt.

Analysieren wir basierend auf diesem Hintergrund die unmittelbar Beteiligten. Die Hamas ist als Organisation besonders schlecht darin, eine Zivilgesellschaft in Frieden und Wohlstand aufzubauen. Sobald es den in ihrem Herrschaftsraum wohnenden Menschen etwas besser geht, sobald sie beginnen, sich wirtschaftlich und sozial positiv zu entwickeln, werden sie unwilliger, sich für die Bonzen der Hamas herzugeben, diese Bonzen, die die Hilfsgelder in die eigene Tasche fließen lassen und ansonsten von ökonomischer Ahnungslosigkeit gekennzeichnet sind. Zudem haben einige arabische Staaten, die zum Unterstützerkreis gehören, ihre Fühler gen Israel ausgestreckt. Mit einem Ende des Ölbooms in Sichtweite wissen sie, dass sie ohne einen zweckrationalen wirtschaftlichen Plan nicht auskommen werden; und für ihn brauchen sie Israel. Ein Krieg zwingt die eigene Bevölkerung und die arabischen Verbündeten zum Schulterschluss (das jedenfalls ist die Kalkulation). Bei den weltweiten Demonstrationen gegen Israel marschieren Anhänger und Gegner von Assad, Anhänger und Gegner des Regimes in Iran zusammen, Schiiten und Sunniten. Menschen, die ansonsten einander Feind sind und bereit wären, sich gegenseitig umzubringen, stehen auf einmal auf der gleichen Seite. Das ist das Wunder des Kriegs.

Israel auf der anderen Seite ist ebenfalls von einer innenpolitischen Zerreißprobe bedroht. Nichts kommt gelegener als ein Krieg, der die Bildung einer Notstandsregierung erzwingt. So sagte der letzte deutsche Kaiser beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Gespenstischerweise war die Ausgangslage bei der sogenannten Zweiten Intifada in der ersten Hälfte der Nullerjahre ganz ähnlich (in der Zweiten Intifada kämpfte die Hamas dann wieder an der Seite der verfeindeten PLO).

Nun gibt es in der globalisierten Welt kaum noch regional begrenzte Kriege. Ganz besonders bei den Kriegen im Nahen Osten spielt die Konfliktlage unter den Supermächten eine starke Rolle, weil keine der Kriegsparteien ohne deren Unterstützung auskommt. Die gängige Behauptung nach dem Zusammenbruch der UdSSR Ende der 1980er Jahre, die bipolare Welt sei beerdigt, hat sich als falsch herausgestellt. Vielmehr ist sie, ergänzt durch China und Indien, in genau der Form aktuell, wie George Orwell es in seiner Dystopie „1984“ bereits 1948 voraussagte: Ständig wechselnde Koalitionen zwischen den Akteuren halten das Kriegskarussell am Laufen. Die Eröffnung einer weiteren Front neben dem Ukraine-Krieg birgt für beide Seiten ein sehr hohes wirtschaftliches Risiko, was den Ressourcenverbrauch betrifft. Der hohe Ressourcenverbrauch zwingt die Staaten zu erhöhter Steuerausbeutung und zu Inflation; diese beiden Finanzierungsquellen des Kriegs führen notwendigerweise zu Wohlstandsverlusten. Dennoch liegt die Eröffnung der zweiten Front im Kalkül der Machtrationalität genau zu dem Zeitpunkt, da der Ukraine-Krieg die Bevölkerungen auf beiden Seiten immer weniger dazu reizt, ihren Wohlstand zu geben – und schon gar nicht ihr Leben.

Ein gravierender Unterschied besteht in der von der Hamas und von Israel eingesetzten Strategie. Die Hamas ist – wie die anderen Organisationen, die für sich beanspruchen, die Palästinenser zu vertreten – außerstande, einen konventionellen Krieg gegen Israel zu führen. Die Strategie besteht darin, durch Akte des Terrors gegen die israelische Bevölkerung (unter Einschluss ihres arabischen Teils) die Regierung Israels zu Reaktionen zu provozieren, die dann ihrerseits das politische oder militärische Eingreifen dritter Akteure motivieren. Während vieler Jahre setzten sie zudem die Strategie ein, Akte des Terrors gegen die Bevölkerung von Ländern zu begehen, die als Verbündete Israels galten (und dies droht jetzt auch wieder zu geschehen). Die Akte des Terrors dieser von Palästinenserorganisationen seit rund 70 Jahren praktizierten Strategie sind immer ungezielt und haben in sich keinen militärischen Sinn. Für sie gibt es nicht den Hauch einer moralischen Rechtfertigung, egal, welche Moral man zugrunde legt – außer einer rassistischen Moral (die ihrerseits den Namen Moral zu Unrecht trägt).

Israel verfolgt dagegen die Strategie massiver Vergeltungsschläge. Diese zielen zwar (meist) auf die militärische Infrastruktur der Gegner, doch nehmen sie eine hohe Zahl ziviler Opfer in Kauf. Die Inkaufnahme ziviler Opfer als (unerwünschter?) Nebeneffekt militärischer Operationen gilt im Rahmen des staatlichen Kriegsrechts als legitim; allerdings lässt sich die Grundlage dieser Moral ebenfalls anzweifeln. Bei den Vergeltungsschlägen kommen jeweils mehr Menschen ums Leben und es werden dabei jeweils größere Verheerungen angerichtet als bei den vorangegangenen Terrorakten.

Wir sehen, dass es sich bei der Frage nach der moralischen Bewertung der Aktionen beider Seiten nicht darum handelt, ob Selbstverteidigung auch bewaffneter Art moralisch zulässig ist. Es handelt sich also nicht um die Frage eines konsequenten Pazifismus. Vielmehr handelt es sich darum, was zur Selbstverteidigung erlaubt ist. Im Zivilrecht gilt, dass bei Selbstverteidigung unbeteiligte Dritte nicht zu Schaden kommen dürfen, unter keinen Umständen. Dass dies auf der Ebene von Staaten nicht gelten solle, ist nicht einzusehen. Übrigens hat die zeitweise vom israelischen Geheimdienst eingesetzte Strategie, gezielt Topleute der Gegner auszuschalten, selbst unter Freunden Israels zu Ablehnung geführt. Alle Staaten finden es in Ordnung, dass im Krieg das Fußvolk stirbt. Aber die Befehlshaber sind sakrosankt.

Anders als die PLO, die den Staat Israel seit 1993 anerkennt, tut das die Hamas nicht. Dass sie, indem sie das Existenzrechts des israelischen Staats negiert, auch die Vernichtung oder Vertreibung der jüdischen Bevölkerung meint, steht zwar so in ihren Veröffentlichungen geschrieben, wird jedoch meiner Erfahrung nach von den westlichen Unterstützern beharrlich geleugnet. Und egal, ob man die Gründung des Staats Israel für ein Unrecht erklärt oder nicht, rechtfertigt sie unter keinen Umständen den Terror gegen die Bevölkerung.

Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Staatsgründung Israels ist ihrerseits wieder ein Lehrstück. Denn wie viele Jahre muss ein Staat existieren, um als rechtmäßig zu gelten? Wie viele Jahre kann man zurückgehen, um die rechtmäßigen Grenzen zu determinieren? Staaten und ihre Grenzen sind in der Regel aus kriegerischen Auseinandersetzungen hervorgegangen. Grenzen verlaufen nie zwischen Völkern, weil sie sich im gesellschaftlichen Leben durchmischen – außer sie sind durch Gewässer und hohe Berge geographisch getrennt oder es hat eine ethnische Säuberung stattgefunden. Ethnische Säuberungen haben in den Kriegen zwischen Israel und arabischen Staaten beziehungsweise Protostaten beide Seiten durchgeführt, die arabischen Staaten allerdings deutlich radikaler. Das historische Recht der Staaten ist immer von Krieg und Willkür geprägt.

Schauen wir auf die Gründungszeit Israels, eröffnet sich allerdings in der Tat eine Alternative. Neben dem bedauerlicherweise siegreichen etatistischen Zionismus gab es noch den anarchistischen Zionismus, dessen hervorragendster Repräsentant der deutsche Religionswissenschaftler und Anarchist Martin Buber war. Er strebte eine nicht staatliche Formierung des jüdischen Lebens unter Achtung des Eigentums der arabischen Bevölkerung in Palästina an. Deren Vertreibung und Enteignung lehnte er auch nach erfolgter Gründung des Staats Israel ab, welche die zeitlich letzte Niederlage des klassischen Anarchismus darstellt.

Die Geschichtsschreibung tendiert dazu, Verlierer als unwesentlich abzutun. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, und exakt zu sagen, ob ein Verlierer überhaupt eine Chance gehabt hat, ist kaum möglich. Wohl aber lässt sich sagen, dass die Ideen Bubers auch eine aktuelle Möglichkeit darstellen würden. Wie ich Anfang des Jahres schrieb: Der kriegerische Etatismus wird durchmarschieren oder man wird – wenn er gestoppt werden kann – Buber, wenn auch verspätet, als einen der großen Vorkämpfer für Menschlichkeit und Freiwilligkeit dereinst Denkmäler auf allen Plätzen setzen.

Der Einwand, mit einer Null-Staaten-Lösung würde die Seite, die sie als Erstes anstrebt, ein Risiko eingehen, ist scheinheilig. Denn welches Risiko ist größer als das des Kriegs?


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