Strafrecht im Wandel: Gesundheit ohne Maske
Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
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Bis zum 24. November 2021 gab es im deutschen Strafrecht eine Vorschrift, die lautete: „Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Jener Paragraph 278 StGB, das „Ausstellen
unrichtiger Gesundheitszeugnisse“, wurde an diesem Tag, inmitten des weltweiten
Corona-Fiaskos, geändert. Seither klingt er so: „(1) Wer zur Täuschung im
Rechtsverkehr als Arzt oder andere approbierte Medizinalperson ein unrichtiges
Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei
Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor,
wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur
fortgesetzten Begehung von unrichtigem Ausstellen von Gesundheitszeugnissen
verbunden hat, Impfnachweise oder Testzertifikate betreffend übertragbare
Krankheiten unrichtig ausstellt.“
Auch der juristische Laie erkennt auf ersten Blick: Früher war nur verboten, derartige „unrichtige“ Zeugnisse zum Gebrauch bei Behörden oder Versicherungsgesellschaften anzufertigen. Heute ist insgesamt untersagt, sie für „den Rechtsverkehr“ im Allgemeinen herzustellen. Und früher war auch kein Gesetzgeber auf die Idee gekommen, Ärzte könnten sich zu Banden zusammenschließen, um Zertifikate über Tests unrichtig auszufüllen. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Straftaten und die Straftäter. Banden sehen nicht mehr aus wie Horden von Panzerknackern in schwarzem Leder, deren unrasierte Mitglieder gefährlich am Straßenrand herumlungern. Die zeitgemäß sozialschädliche Medizinalperson betreibt ihr Fälschergewerbe im weißen Kittel und leistet Beihilfe zu erregenden Übertragungen.
Das wahrhaft spannende Tatbestandsmerkmal der Norm ist indes – nach wie vor – das „unrichtige Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen“. Denn mit ihm stellt der Gesetzgeber die Frage in den Raum: Wann gibt der Arzt richtiges Zeugnis über den Zustand der Gesundheit eines Menschen?
Staatsanwaltschaften und Strafgerichte haben sich im Zuge der krönenden Ausnahmeseuche nicht selten an der Frage verhoben, ob ein Arzt einen Patienten persönlich (im Sinne gleichzeitiger Anwesenheit in einem Raum) untersuchen müsse, um dadurch die Voraussetzungen für die Attestierung eines Gesundheitszustandes zu schaffen. In dieser Weltsicht reicht nicht, dem Herrn Doktor via Zoom oder Skype eine eingeschlagene Nase, fehlende Gliedmaßen oder sonstige Gebrechen zu präsentieren, auf dass er niederschreibe, einen Kranken gesehen zu haben. Mancher Strafrechtler war hier oft geneigt, die Existenz moderner Kommunikationsmittel in der Telemedizin zu ignorieren und im Geist des Strafgesetzbuches in seiner Ursprungsversion aus dem 19. Jahrhundert zu urteilen. Doch das soll hier nicht Thema sein.
Herausfordernder noch als die Frage, wann ein Gesundheitszustand per Präsenz- oder Ferndiagnose verlässlich in dann genau welche Worte zu kleiden sei, um als strafjuristisch „richtig“ gelten zu können, ist ein ganz anderes Problem: Was, um des Himmels willen, ist denn eigentlich „Gesundheit“? Wann ist ein Mensch „gesund“? Und wann ist er es nicht? Will man hier nicht den medizinischen Regelfall mit einem militärischen Musterungsarzt verwechseln, der zu prüfen hat, ob der Rekrut im Feld in der Lage wäre, auf Befehl in die Kartoffeln zu springen und wieder heraus, dann haben andere, zivile Maßstäbe zu gelten.
Vor 50 Jahren hörte ich eine zu diesem Zeitpunkt seit 30 Jahren beinamputiert an den Rollstuhl gefesselte Frau zu meinem Vater sagen: „Wollen wir uns nicht beschweren – Hauptsache gesund!“ In der Nacht zuvor hatte man ihr, wie so oft, Schmerzmittel in einen Beinstumpf spritzen müssen, damit sie den Phantomschmerz ertrage.
Und umgekehrt: Wer kennt nicht den Typus des optisch rundherum intakten, vollständigen, beweglichen Mitmenschen, der mit schlaffem Körper und hängendem Kopf sagt: „Mir ist heute schon wieder nicht so“?
Was also ist „Gesundheit“? Handelt es sich um einen äußeren, physikalisch festzustellenden Umstand, der den anfassbaren und durchleuchtbaren Körper betrifft? Oder reicht Gesundheit auch hinein in das Subjektive, Seelische, in das nicht Objektivierbare? Anders gefragt: Kann die psychische „Software“ eines Menschen ihn krank machen, obwohl doch seine „Hardware“ aus Haut und Haaren, Fleisch und Knochen, Muskeln und Fett ganz unbeeinträchtigt daherkommt?
Gesteht man einem anderen Menschen zu, sich auch dann als „nicht gesund“ zu empfinden, wenn das von außen nicht sichtbar oder messbar ist, dann fängt man an, diesen anderen als ein beseeltes Wesen zu begreifen. Ein guter Arzt ist dann aber nicht ein argwöhnischer Detektiv, der mechanikergleich jedwede Zustands- und Befindlichkeitsbeschreibungen seines Patienten in Zweifel zieht und sie anhand kenntnisreicher Funktionstests auf Glaubhaftigkeit überprüft. Ein vernünftiger Arzt ist vielmehr einer, der, anders als ein Kriminalkommissar, dem Bericht des Leidenden Glauben schenkt und sich ihm empathisch als Zuhörer andient. Ein helfender Arzt ist einer, der sich in sein Gegenüber einfühlt und nach Wegen sucht, den Schmerz zu überwinden. Kurz: Ein Staatsanwalt muss nichts glauben, aber ein Arzt erst einmal alles. Denn er ist nicht der Gegner seines Patienten, sondern dessen Helfer.
Hat man diese grundlegende Rollenverteilung zwischen Ärzten, Medizinalpersonen und Patienten einmal verstanden, dann bleibt das nicht ohne Auswirkung auf die Frage nach der zutreffenden Zustandsbeschreibung durch einen attestierenden Arzt. Es hat vielmehr unmittelbare Konsequenzen auf die Darstellung des „richtigen“ Gesundheitszustandes. Richtig ist das Zeugnis über die Gesundheit, wenn es dem Bericht des Patienten über seine Befindlichkeit entspricht.
Einen Anhaltspunkt für die Kriterien, anhand derer ein Patient seine Gesundheit selbst taxieren und beschreiben kann, liefert die offizielle Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation höchstselbst: „Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist ein Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“
Wo keine Negativabweichung von statistischen Erfahrungsdurchschnittswerten oder mittlere Funktionseinschränkungen diagnostizierbar sind, da kann dennoch das völlige Wohlbefinden des Betroffenen eingeschränkt sein. Und es ist ihm – als Grundrecht – zuzugestehen, dass er nach der ihm bestmöglichen Art strebt, sich seines Zustandes zu erfreuen. Ohne Unterschiede politischer oder sozialer Art.
Wer also sagt, seine Gesundheit leide, wenn er eine Gesichtsmaske trägt, dem ist das von seinem Arzt zu glauben. Es ist ihm zu attestieren. Und die Justiz hat dieses ärztliche Zeugnis nicht zu bezweifeln. Denn zöge sie es in Zweifel, verstieße sie nicht nur gegen die Patientenautonomie und die ärztliche Berufsausübung, sondern insbesondere gegen die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation.
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