Skin in the Game: Über moralische Risiken und rücksichtloses Verhalten
Wer kein Risiko trägt, verhält sich verantwortungslos
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert) drucken
Es durchzieht alle Lebensbereiche: Menschen, die Dinge tun, ohne die Risiken zu tragen, verhalten sich verantwortungslos. Sie wälzen die Kosten ihres Handelns auf Dritte ab. Ökonomen sprechen in solchen Fällen von moralischen Risiken. Diese treten aber nicht nur im Finanzwesen auf, wenn Banken daraufsetzen können, dass im Ernstfall ein Rettungspaket geschnürt wird, oder im öffentlichen Dienst, wenn man sicher sein kann, dass schlechte Kundenbetreuung keine nennenswerten Konsequenzen hat. Wir finden sie überall. Jede Macht- und jede Vertrauensbeziehung zwischen Menschen birgt potenzielle moralische Risiken in sich. Auch enge familiäre Beziehungen und Freundschaften werden durch moralische Risiken auf die Probe gestellt.
Erziehung, Pädagogik, Charakterbildung und Selbstverbesserung verfolgen deshalb unter anderem das Ziel, innere Resistenz gegenüber moralischen Risiken aufzubauen. Man muss lernen, das Richtige zu tun, auch wenn die Versuchung des Falschen groß sein kann, vor allem, wenn man nicht dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Man muss lernen, trotzdem das Richtige zu wollen. Das kostet sehr viel Kraft und Disziplin. Und da wenige Dinge so zuverlässig scheitern wie Erziehung und Pädagogik, wird man moralische Risiken auch niemals aus der Welt schaffen können. Eine erfolgreiche Gesellschaft muss deshalb Mechanismen entwickeln und kulturelle Verhaltensformen ausprägen, die moralische Risiken eingrenzen.
In einer Marktwirtschaft können viele moralische Risiken über Reputationsmechanismen eingehegt werden. Der Gebrauchtwagenhändler, der Wissens- und Informationsvorteile hat, könnte unbedarfte Käufer übers Ohr hauen. Er wird aber davon absehen, wenn er gut erzogen ist. Und wenn nicht, dann hilft ein möglicher Reputationsverlust. Wenn seine soziale Existenz und sein zukünftiges Einkommen davon abhängig sind, dass er sich in der Gemeinschaft einen guten Ruf erarbeitet, wird er sich auch trotz charakterlicher Mängel richtig verhalten. Diverse Bewertungsplattformen für Ärzte, Professoren, Hotels, Restaurants und vieles mehr erfüllen dieselbe Funktion auf einer höheren Ebene. Man kann zwar nicht jeder Bewertung trauen, aber im Großen und Ganzen erfüllen sie den Zweck, diejenigen zur Ordnung zu rufen, die Gefahr laufen. einem moralischen Risiko zu verfallen und sich selbst auf Kosten anderer einen Vorteil zu verschaffen. In manchen Fällen dreht sich das moralische Risiko sogar um, nämlich dann, wenn unzufriedene Patienten, Studenten oder Kunden sich auf einem irrationalen Rachefeldzug begeben, um eine Reputation zu schädigen. Es gibt halt keine perfekten Lösungen.
Der Bereich, in dem wir heute am weitesten davon entfernt sind, moralische Risiken einzuhegen, ist die Politik. Besonders offensichtlich wird das in Kriegszeiten. Ein wesentliches Prinzip bei der Einhegung von moralischen Risiken ist Symmetrie. Der libanesisch-amerikanische Autor Nassim Taleb hatte dies unter dem Titel „Skin in the Game“ in seinem 2017 erstmals publizierten Bestseller eindrucksvoll zusammengefasst. Symmetrie bedeutet, dass diejenigen, die andere Menschen bestimmten Risiken aussetzen, diese Risiken auch selbst tragen müssen. Im Krieg heißt das zusammengefasst: Wer das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzt, sollte auch sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Dieses Prinzip würde einen Krieg noch nicht rechtfertigen, aber wir hätten zumindest deutlich weniger von ihnen.
In der Antike hat man sich noch an dieses Prinzip gehalten. Es wurde erwartet, dass der Feldherr in erster Reihe mit der Armee in die Schlacht zieht. Julian II. (Flavius Claudius Iulianus, 331/332–363 nach Christus) ist als römischer Kaiser im Krieg gegen die Perser gefallen. So ein, obgleich fanatisches, Heldentum ist heutzutage kaum vorstellbar, wenn man sich die Staatsoberhäupter in der Welt anschaut. Aber es würde einiges zum Besseren wenden, wenn man an Wladimir Wladimirowitsch Putin, Wolodymyr Selenskyj, Joe Biden, Olaf Scholz, Benjamin Netanjahu und Ali Chamenei den gleichen Anspruch hätte wie die Römer an Kaiser Julian. Wenn Staatsoberhäupter heutzutage in Armeeuniform in die Öffentlichkeit treten, dann tun sie dies, um Glaubwürdigkeit vorzutäuschen. Sie gaukeln der Öffentlichkeit vor, dass sie als Teil der Armee ihr Leben aufs Spiel setzen. Tatsächlich tun sie es nicht. Würden sie es, wäre die Welt um einiges friedlicher.
Nassim Taleb, Das Risiko und sein Preis: Skin in the Game
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