25. Oktober 2023 13:00

Die Zukunft der Menschheit Was die Französische Revolution mit Migrations- und Genderpolitik zu tun haben könnte

Freiheit, Brüderlichkeit, oktroyierte absolute Bio-Gleichheit

von Axel B.C. Krauss

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Bildquelle: wavebreakmedia / Shutterstock Nicht Mann, nicht Frau, nicht schwarz, nicht weiß: Prototyp des künftigen Menschen?

Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, die es gewohnt ist, längere Zeiträume zu überblicken, um größere kulturelle oder politische Entwicklungen abschätzen und der Übersichtlichkeit halber in den Setzkasten der Epochen einordnen zu können, sind 234 Jahre keine sonderlich lange Zeit. Man könnte fast scherzen: ein „Blinzeln“, ein Wimpernschlag. Oder 183 Jahre, wenn man bis einige Jahre vor der zweiten Revolution von 1848 zurückgehen möchte, ins Jahr 1840. Dieses Jahr wird weiter unten noch eine Rolle spielen.

Eigentlich ist die Überschrift daher nicht ganz richtig: Es gab ja nicht nur eine Französische Revolution, sondern mehrere, und das nicht nur in Frankreich: Das „Schicksalsjahr“ 1789 hat sich zwar in der geschichtlichen Allgemeinbildung festgeschrieben, doch hatten die Revolutionsbewegungen auf dem europäischen Kontinent, die über Frankreich weit hinausreichten (vor allem Italien und Polen gehörten zu den Bannerträgern des „Feuers der Revolution“), Folgewirkungen, die teilweise bis heute andauern.

Die politischen Ideen und Philosophien, die in dieser Zeit entwickelt wurden, haben ja nicht einfach mit der Wende zum 20. Jahrhundert aufgehört. Vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass die sogenannte „Bolschewistische Revolution“ in Russland den Beginn des bislang wohl größten sozialtechnokratischen Experiments einläutete, das auf „sozialrevolutionärem“ Gedankengut basierte, nämlich der UdSSR aka Sowjetunion. Auch deren totalitärer Charakter – die Tatsache, dass es sich um eine Diktatur handelte – lässt sich auf Vorstellungen zurückführen, die ihren Ursprung in der französischen Revolutionszeit haben. Als Beispiele seien die Forderungen zweier ihrer führenden Köpfe genannt, Filippo Michele Buonarotti und Louis-Auguste Blanqui, die sich für die „Notwendigkeit“ einer „vorübergehenden Diktatur“ aussprachen, um nach einer erfolgreichen Revolution das Chaos schnell ordnen und vor allem konterrevolutionären Bestrebungen möglichst wirkungsvoll begegnen zu können. Dieses Konzept einer „revolutionären Diktatur“ wurde etwas später von einem anderen Sozialrevolutionär aufgegriffen, der zu zweifelhafter weltweiter Berühmtheit gelangte – einem gewissen Karl Marx. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 entwarf er zusammen mit Friedrich Engels in London Pläne für einen Weltverbund revolutionärer Kommunisten im Versuch, diesen zur führenden, treibenden Kraft des Kommunismus in ganz Europa zu machen. In den Statuten dieser Organisation hieß es: „Das Ziel der Vereinigung ist der Sturz aller privilegierten Klassen, die Unterwerfung dieser Klassen unter die Diktatur des Proletariats durch die Aufrechterhaltung der Revolution auf Dauer bis zur Verwirklichung des Kommunismus, der die endgültige Form der Organisation der menschlichen Gesellschaft sein muss“ (zitiert nach James H. Billington, „Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith“, Seite 282, meine Übersetzung).

Beruhte der Glaube einiger frühen Revolutionäre aus der nationalrevolutionären Strömung an die angebliche Notwendigkeit einer solchen „temporären“ Diktatur vor allem auf der Sorge, dass die anfängliche Instabilität einer völlig neuen Gesellschaftsordnung schnell außer Kontrolle geraten und, wie bereits erwähnt, durch konterrevolutionäre Angriffe erstickt werden könnte, steckte bei vielen der sozialrevolutionären Nachfolger – gerade bei einem Marx – pure Berechnung dahinter: Indem man das „Endziel“, also das vorgebliche „Paradies“ des endgültig und ein für alle Mal durchgesetzten Kommunismus, kurz: die durch die Aufhebung aller „Klassengrenzen“ erwirkte vollständige Befreiung des Proletariats qua Abschaffung sämtlichen Privateigentums und „Vergemeinschaftung“ der Produktionsmittel und so weiter, und so fort auf eine unbestimmte, nicht näher benannte Zukunft verschob, hatte man natürlich einen förmlich idealen Vorwand, die „vorübergehende“ Diktatur so lange aufrechtzuerhalten, bis dieser Zustand erreicht ist. Der natürlich nicht eintrat.

Ganz umgangssprachlich ausgedrückt: Man hing den Leuten die berühmte Möhre vor die Nase. Eine ideologische Möhre, deren utopisch-messianisches Heilsversprechen sich nie erfüllte – in keiner kommunistischen Diktatur, egal, in welchem Land sie installiert wurde. Mal ganz zu schweigen von der traurigen historischen Tatsache, dass eine einmal installierte Regierung, hat sie sich erst mal schön sattgefressen, ihre Macht nur recht ungerne wieder hergibt … – womit sich die absurde Vorstellung einer „vorübergehenden“ Diktatur auch schon erledigt hat. Ist eine solche erst mal am Platz, kann sie leider nur gewaltsam entmachtet werden. Sei es durch Widerstand der Bevölkerung – aus dem Inneren – oder von außen, also durch militärisches Eingreifen anderer Mächte.

War die nationalrevolutionäre Bewegung – wie der Name schon sagt – auf die nationale Ebene beschränkt, darauf, eine Gesellschaft der „Brüderlichkeit“ (Fraternité) in den Grenzen einer starken Republik zu schaffen, gaben sich die Sozialrevolutionäre schon früh einen universellen Geltungsanspruch und zogen dafür den Begriff der „Egalité“ heran: Die Gleichheit – ursprünglich gedacht als Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz – sollte nicht nur für die Bürger einer Nation gelten, sondern auf die ganze Welt ausgedehnt werden, also für alle Menschen Gültigkeit besitzen. Und das nicht nur auf dem Gebiet des Rechts, doch dazu gleich mehr.

Der polnische Saint-Simonist Bogdan Jánski war Billington zufolge der Erste, der in den 1780er Jahren den Begriff der „Sozialen Revolution“ prägte. Sein Landsmann, der Geschichtsphilosoph und Ökonom August Cieszkowski, „ging von der Ideologie zur Kosmologie über, um das Bild einer weltweiten sozialen Transformation aufrechtzuerhalten. Eine wieder integrierte ‚organische Menschheit‘ sollte ein neues Zeitalter des ‚Heiligen Geistes‘ einleiten, in dem alle nationalen Identitäten vor der Zentralregierung der Menschheit, dem Internationalen Weltgerichtshof und dem Universalen Rat der Völker verschwinden würden“ (Billington, Seite 230). Woran man erkennt, dass die Idee einer „Weltregierung“ alles andere als ein Produkt des 20. oder frühen 21. Jahrhunderts ist.

Ganz allgemein schossen revolutionäre Gruppierungen zu dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden. Suchen Sie sich einfach einen Namen aus: Es gab die „Babeufisten“ (basierend auf der revolutionären Philosophie von François Noël Babeuf), die „Saint-Simonisten“ (Anhänger Henri de Saint-Simons), die „Buonarottisten“, „Pythagoräer“ und „Philadelphianer“ (die ihre Vorstellungen von Revolution an der Amerikanischen ausrichteten) und natürlich die Hegelianer und Junghegelianer – Letzteren war ihr bewunderter Meister und Vordenker zu „liberal“, weshalb sie seine Philosophie politisch radikalisierten, wovon wiederrum Marx beeinflusst wurde et cetera, et cetera.

Genug der Vorrede – sie diente nur der Verdeutlichung, dass Geschichte sich nicht als eine qua „Zäsur“ streng voneinander getrennte Abfolge von Epochen denken lässt. Manche Philosophien und Ideologien besitzen eine so starke Strahlkraft, dass sie ihren ursprünglichen historischen Entstehungskontext überdauern. Das bedeutet nicht, dass man immer eine direkte, bruchlose Linie zwischen den Zeiten ziehen könnte, sondern nur, dass manche Vorstellungen lange fort- und nachwirken.

Dazu ein Beispiel.

Nach Beginn der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 fand ein bestimmtes Zitat von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi in den alternativen Medien rasche Verbreitung. Es stammt aus seinem Buch „Praktischer Idealismus. Adel, Technik, Pazifismus“ und lautet (Seite 22–23): „Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen.“

Allerdings geht aus dem gesamten Kontext dieses kurzen Zitats recht klar hervor, dass für Kalergi diese Entwicklung eher eine natürliche war, eine der Geschichte – vor allem dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt geschuldete – quasi immanente Tendenz, die keines politischen Zutuns bedarf. Kurz, die Menschheit würde durch ihre zivilisatorischen Fortschritte irgendwann sowieso zusammenwachsen. Die Sozialrevolutionäre der Zeit vor ihm hingegen gedachten diese Entwicklung politisch-proaktiv einzuleiten und zu beschleunigen.

Interessant ist nun, dass die Vorstellung der Aufhebung ethnischer Unterschiede beziehungsweise der  Grenzen zwischen den Menschen – die Kalergi, wie gesagt, als natürliche Entwicklung schildert – nicht ursprünglich auf ihn zurückgeht, sondern sich tatsächlich viele Jahrzehnte weiter zurückverfolgen lässt: nämlich in die Zeit vor der zweiten Französischen Revolution, ins Jahr 1839.

Thomas Urbain, einer der einflussreichsten, aber von der Geschichtsschreibung so gut wie vergessenen Sozialrevolutionäre aus dem Umfeld der Saint-Simonisten, suchte nach einer Möglichkeit, die Unterschiede und somit auch das Konfliktpotenzial zwischen den Ethnien zu beseitigen. Es ging ihm im Wesentlichen um eine Annäherung, ja eigentlich schon Verschmelzung von Orient und Okzident. Er war davon überzeugt, auserwählt zu sein, zwischen Ost und West zu vermitteln. Dazu schreibt Billington: „Urbain vertiefte sich in sprachliche und ethnographische Studien über seine Wahlheimat [Algerien, meine Anmerkung]. [Barthélemy Prosper] Enfantins Vorstellung von der Versöhnung zwischen Orient und Okzident schien sich in Algerien in gewisser Weise durch Urbain zu verwirklichen, der halb schwarz, halb weiß war, ‚den Islam annahm, ohne dem Christentum abzuschwören‘, und Gedichte sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch schrieb.“

Urbain tauschte mit einem anderen Saint-Simonisten namens Gustave d’Eichtal mehrere Briefe aus – die „Briefe über die weiße und schwarze Rasse“ –, in denen beide der Frage nachgingen, wie eine Aussöhnung zwischen den Rassen gelingen könne: durch die Schaffung einer „neuen Mulattenrasse“ (Billington, Seite 222): „Die Vermischung der Rassen in der hispanischen Welt (die sich von der Zeit der Mauren bis zum heutigen Kuba fortsetzt) wird im dritten und letzten der Briefe als Modell für die Zukunft gesehen. Die kommende mulattische Menschheit sollte das Produkt der direkten erotischen Verschmelzung von getrennten Rassen und Geschlechtern sein“ (ebda.).

Es sollten also nicht nur die ethnischen Grenzen verschwinden, sondern auch die zwischen den Geschlechtern.

„Die Saint-Simonisten betrachteten das Zusammenspiel von Mann und Frau als den neuen sozialen Mikrokosmos, der an die Stelle des atomisierten Individuums trat. Jeder wird seine Erfahrungen im Leben der anderen vervollständigen, dann in das Leben aller einfließen und schließlich das Leben selbst bis in die Ewigkeit verewigen – so argumentierte Enfantin in seinem letzten Werk, ‚La Vie eternelle‘. Er hob die ältere Saint-Simon’sche Idee der Seelenwanderung (palin-génesis) auf ihre höchste Stufe und prophezeite sowohl die technologische Umwandlung der Erde als auch die biologische Schaffung einer neuen androgynen Menschheit“ (Billington, Seite 220–21).

Eine neue, auf sozialtechnischem beziehungsweise -revolutionärem Wege geschaffene „androgyne Menschheit“? Kommt das bekannt vor? Hallo Gender?

Bis nächste Woche.


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