01. November 2023 12:00

„The Menu“: Wie man mit einem Cheeseburger dem Führerbunker entkommt Sekten, Kulte, allegorische Meisterköche

Hinweis: Diese Filmrezension enthält Spoiler

von Axel B.C. Krauss

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Bildquelle: ILya Soldatkin / Shutterstock Ein Cheeseburger kann alles verändern: Zumindest in dem Film „The Menu“

Überblasen. Artifiziell. Verschwurbelt. Damit ist nicht Mark Mylods superb inszenierte Allegorie auf blinden Gehorsam, Gefolgschaftskulte, erstarrte, unnatürliche und widersinnige Hierarchien, eingeübte soziale Rituale und menschenfressenden ideologischen Überbau aller Art gemeint. Sondern eben solche Kulte, die der Film mit viel schwarzem Humor und bis zum bitterbösen, furztrocken-tragikomischen Ende sehr konsequent auseinandernimmt und als das bloßstellt, was sie sind: aufgepfropfte Konstrukte, die – folgt man ihnen zu lange blindlings, ohne jemals ihre Grundannahmen infrage zu stellen – fatale Konsequenzen haben können.

Chapeau: Auf die Idee, das mit der Zeit gewachsene Eigenleben zu selten hinterfragter Systeme menschlichen Miteinanders in Form zwar recht hübsch, aber starr dekorierter, streng voneinander getrennter Tischinseln als visuelle Metapher für eine „atomisierte Gesellschaft“ darzustellen, denen die Konsequenzen geistiger Unbeweglichkeit in Form überkünstelter Gänge eines allegorischen Abendessens serviert werden – „Ihr werdet weniger essen, als ihr verlangt, und mehr, als ihr verdient“, flüstert die Chefkellnerin einem Gast fatalistisch ins Ohr –, muss man ja auch erst mal kommen. Ohne woken Zeigefinger-Wildwuchs, ohne zu prätentiös zu wirken, ohne schlaumeiernde Dududu-Feuilletonpädagogik und ohne hölzern dozierende Dialoge.

Allerdings klingt die Grundkonstellation – reiche, privilegierte Gäste (Achtung, Anspielung auf Kapitalisten!), die erwarten, von schweigend unterwürfigen Proletariern luxuriös bedient und verwöhnt zu werden – ja doch erst mal nach arg verstaubten kommunistischen Manifesten oder einem Drehbuchseminar, das seine Teilnehmer auffordert, Marx’ „Kapital“ in eine rabenschwarze Komödie umzuschreiben. Ein gewisses klischeelinkes Echo scheint schon durchzuklingen. Und wenn der „Chef“, grandios gnadenlos verkörpert von Charakterdarsteller Ralph Fiennes, zu Escort-Dame Margot (Anya Taylor-Joy) sagt, er erkenne eine Kollegin aus der Dienstleistungsindustrie, wenn er sie vor sich habe (sie ist die Einzige, die er in sein Büro einlädt), braucht man wirklich nicht viel Phantasie, um daraus ein „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ herauszuhören. Oder? Jein.

Man kann „The Menu“, wenn man unbedingt will, zwar als „linken Film“ einstufen. Glücklicherweise vermeidet es die Regie aber, Zuschauerhirne in eine Zwangsjacke zu stecken und sich auf eine einzige Deutungsebene zu versteifen – auch wenn der „Chef“ den Investor (ui, böse!) seines Luxusrestaurants in doch etwas plattnasiger Symbolträchtigkeit im Ozean versenkt. Es wäre allerdings ein Widerspruch, nun den ganzen Film durch diese Brille zu sehen – denn es liefe auf eine hermeneutische Angina hinaus, darauf, einer einzigen Interpretation hündisch zu folgen. Genau das aber – blinde Gefolgschaft – wird in diesem Film ja gerade kochkunstgerecht auseinandergenommen. Man kann „The Menu“ daher mühelos auch als Abrechnung mit Sekten und Kulten aller Art verstehen. Vor allem Gefolgschaftskulten.

Dafür gibt es drei Schlüsselszenen. In der ersten erschießt sich ein junger Koch vor den Augen der schockierten Gäste. Muss das sein? Natürlich nicht. Es war völlig unnötig. Doch hatte der arme Kerl in diesem Augenblick keinen eigenen Willen mehr – er folgte ergeben den Worten seines Führers, der ihm zuvor mit regungsloser Miene mitgeteilt hatte, er werde nie das Niveau seines bewunderten Meisters erreichen, er werde nie großartige Leistungen vollbringen, weshalb sein Leben eigentlich sinnlos sei. Was natürlich nicht stimmt, doch Chef Slowik, wie er im Film genannt wird, weiß um die Macht der Worte.

Man könnte auch sagen: Der „Chef“ entscheidet sich für die „Methode John Doe“, sozusagen – ähnlich dem psychopathischen Serienmörder aus David Finchers „Sieben“, der den Gästen durch rabiate Demonstrationen ihre Fehler und Versäumnisse vor Augen führen will. Klar, das ist ziemlich anmaßend – er nimmt eine Position moralischer Überlegenheit ein, von der herab er den Dummerchen eine unvergessliche Lektion zu erteilen gedenkt –, allerdings nimmt er sich, genau wie John Doe, am Ende davon selber nicht aus. Im Gegensatz zu Doe legt er aber nie selber Hand an. Er wird nie gewalttätig, er braucht keine physische Einschüchterung. Die psychische genügt ihm – er weiß, welche Wirkung eingeschliffene Hierarchien haben können, er kennt das verführerische Potenzial von Ideologien – auch so kann man diesen Film verstehen.

In der zweiten Schlüsselszene erhängt sich einer der Gäste, Tyler – herrlich hysterisch und wimmernd unterwürfig gespielt von Nicholas Hoult –, nachdem der Chef ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Man erfährt nicht, was genau gesagt wurde, aber das ist auch überflüssig – schließlich hing Tyler ja sowieso an den Lippen seines Idols und hätte jeden seiner Befehle blind befolgt. Wie auch der Rest der Gefolgschaft: Wenn der Chef seinen Zöglingen mechanisch zuruft „Ich liebe euch“, antworten sie nicht umsonst mit einem stramm militärischen „Wir lieben dich auch, Chef!!!“.

In der dritten Szene, die diese Deutungsebene unterstützt, dreht Margot den Spieß um. Aber nicht aus Rachegelüsten, sondern weil sie schlussendlich versteht, worum es Chef Slowik eigentlich geht. Vor jedem Gang des Menüs klatschte dieser in die Hände, um die Aufmerksamkeit zu binden und den nächsten Streich anzukündigen. Sie tut dasselbe, bittet ihn zu sich und bestellt – einen einfachen Cheeseburger. Wie bitte? In einem Restaurant wie diesem? Da gab sich Chefchen so viel Mühe, die erlesensten Gerichte aufzutischen, und sie will – einen Burger? Das erregt bestimmten seinen Zorn.

Im Gegenteil. Als er ihr gegenübersteht und die Bestellung entgegennimmt, lächelt er. Zufrieden. Es ist die einzige Szene des Films, in der er das tut. Weil er weiß, dass sie seine Botschaft verstanden hat: Sie erinnert ihn an seine Menschlichkeit, sie führt ihn zurück zu seinen Ursprüngen – zurück zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht durch die Mühlen dieses Systems gedreht und als ausgemergelter Zyniker wieder ausgespuckt worden war. Sie will den ganzen elaborierten Bullshit nicht, das ganze künstliche, aufgeblasene, überkandidelte, überzüchtete, falsche, maskierte, ent- und verstellte Zeug – allegorisch gesprochen, wohlgemerkt. Als sie in seinem Büro weilte, entdeckte sie an der Wand Fotos aus seiner Vergangenheit. Sie zeigen die Stationen seines Werdegangs. Das älteste zeigt ihn beim Wenden eines Burgers.

Deshalb darf sie frei von dannen ziehen, um die Insel, auf der das Restaurant angesiedelt ist, mit einem Boot zu verlassen. Und die anderen? Die hätten, wie der Chef in einer anderen Szene sagt, „längst viel mehr tun können“, sie hätten viel entschlossener Widerstand leisten können, „doch ihr tatet es nicht“. Wie Sektenanhänger verweilen sie bei ihm. Bis zum bitteren Ende.

Während hinter ihr in einiger Entfernung der ganze Klimbim auf der Insel in die Luft fliegt, beißt Margot auf dem Boot Richtung Festland der Realität ganz entspannt in ihren Burger. Es geht eben nichts über flache Hierarchien.

Ob die Drehbuchautoren den Ort des Geschehens – eine Insel – ebenfalls als Metapher verstanden wissen wollten, konnte ich bislang nicht in Erfahrung bringen. Passen würde es. Denn nicht umsonst sind die bekanntesten Utopien der Geschichte auf Inseln angesiedelt – als eine Art sozialer „Laborversuch“ unter „idealen“ Bedingungen. Insofern könnte man „The Menu“ als schnalzende Destruktion solcher Experimente ansehen, auch wenn diese Interpretation durch die Handlung sicher nicht vollständig gedeckt wird.

Wie auch immer man „The Menu“ auslegen will, so gehört er auf jeden Fall zu den geistreicheren, originelleren und auch witzigeren Streifen der letzten Zeit. Dafür sorgt schon die erstklassige Besetzung.

Bis nächste Woche.


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