„Konsumgesellschaft“: Ist zu viel Wirtschaftswachstum schädlich?
Von guten und schlechten Bedürfnissen
von Olivier Kessler
Wer sich heute auf der Seite des „Guten“ wähnen will, hat das „grenzenlose Wirtschaftswachstum“ anzuprangern. Buchtitel wie „Die Tyrannei des Wachstums“, „Die Grenzen des Wachstums“ und „Wohlstand ohne Wachstum“ sind „en vogue“. Doch was ist eigentlich an einer wachsenden Wirtschaft so schlecht? Im Grunde genommen gar nichts, denn dies bedeutet mehr Mittel für die Bildung, die Kultur, die Gesundheit, die Bedürftigen – kurzum: Mehr Wirtschaftswachstum führt zu einer höheren Lebensqualität. Es künstlich aufzuhalten, ist gleichbedeutend mit einer Beschränkung des menschlichen Potenzials, Probleme zu lösen und Bedürfnisse zu befriedigen.
Als Angehöriger einer Wohlstandsgesellschaft – und darin womöglich noch der mittleren oder oberen Einkommensschicht zugehörig – ist es natürlich einfach zu sagen, dass nun genug sei und man mit dem zufrieden sein sollte, was man hat. Wirtschaftswachstum ist jedoch vor allem für Entwicklungsländer und niedrigere Einkommen eine Chance. Wer das Wirtschaftswachstum unterbinden will, klaut den Armen die Chance, zu prosperieren und zu gedeihen.
Manchmal begründen Wachstumskritiker ihre Position damit, dass das Wachstum der Industrieländer den Entwicklungsländern schade, weil man ja anderen etwas „wegnehmen“ müsse, um selbst mehr zu bekommen. Doch dahinter versteckt sich der sogenannte Nullsummen-Irrtum. Die Weltwirtschaft ist kein Geburtstagskuchen, der jedes Jahr in gleicher Größe gebacken wird und lediglich „fair verteilt“ werden muss. Je marktwirtschaftlicher die Bedingungen in einem Land sind, desto größer ist der Kuchen, der für die jeweiligen Bewohner gebacken werden kann. Diese nehmen anderen dabei nichts weg.
Der rasante Aufstieg von China etwa ist nicht mit einer entsprechenden Verarmung von anderen Regionen der Welt einhergegangen. Vielmehr ist es dort durch marktwirtschaftliche Reformen gelungen, Milliarden von Menschen aus der Armut zu befreien – und gleichzeitig die Lebensstandards im Westen dank tieferen Konsumentenpreisen zu erhöhen. Die weltweite Armut konnte in den letzten paar Jahrzehnten trotz massivem Bevölkerungswachstum stark reduziert werden, was die These eindeutig widerlegt, dass wir es mit einem stetig gleichbleibenden Kuchen zu tun hätten. Ein Land muss sich also nicht schämen, wenn seine Wirtschaft wächst. Vielmehr dürfen die Leistungsträger auf das Geleistete stolz sein, weil damit immer mehr Bedürfnisse von immer mehr Menschen befriedigt werden können.
Anhänger des Sozialismus fanden noch nie ein gutes Haar am Kapitalismus. Doch die Argumente haben sich im Laufe der Zeit verändert. Warf man dem Kapitalismus früher vor, er führe zur „Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterklasse“, verschob sich die Argumentationsweise nach dem enormen Wohlstandsboom nach dem Zweiten Weltkrieg rasch hin zur Behauptung, der Kapitalismus führe zu einer „materialistischen Konsumgesellschaft“ und zu einem „verschwenderischen Überfluss“. Dabei handelt es sich jedoch offensichtlich um ein Post-hoc-Argument, das nachträglich formuliert wurde, um den Kapitalismus trotz seiner Erfolge abzulehnen und das extensive Eingreifen des Staates doch irgendwie rechtfertigen zu können.
In der Tat wimmelt es im Kapitalismus nur so von Waren, Dienstleistungen und Innovationen. Manche sind von diesem reichhaltigen Angebot überfordert und behaupten, sie bräuchten all die Dinge gar nicht. Doch wirklich ernst meint das niemand. Die meisten Menschen schätzen die große Auswahl an Lebensmitteln, Kleidern, Wohnungen, Inneneinrichtungen, Transportmitteln, Versicherungen und Büchern, die ihnen der Kapitalismus bietet. Wenn Dinge kaputtgehen, wollen sie, dass es umgehend repariert wird oder Alternativen zur Verfügung stehen. Sie lieben den Fortschritt und die Tatsache, dass man fürs Telefonieren, Nachrichten-Verschicken und den Zugang zu enormen Wissensdatenbanken heute praktisch kein Geld mehr ausgeben muss. Sie schätzen schnelles, kabelloses Internet, die vielen Varianten der Mobilität und den ständig steigenden Komfort, der von der Marktwirtschaft und vom Wettbewerb der Anbieter um die Gunst der Kunden ausgeht.
Es ist natürlich einfach, in einem Einkaufszentrum zu stehen, mit gerümpfter Nase mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen „Schaut euch diesen dämlichen Konsumwahn an!“ Doch letztlich sind wir alle Teil der „Konsumgesellschaft“, weil dies lediglich bedeutet, Güter und Dienstleistungen zu beziehen, die unser Leben verbessern. Was ist denn daran so verwerflich? Und wer macht sich dieser Tat nicht selbst schuldig? Von Klimademos erfahren die Teilnehmer via Social-Media-Plattformen auf ihren Smartphones und machen sich dann mit ihren modernen Nike-Sneakers und mit einem Starbucks-Coffee „to go“ in der Hand auf, um gegen die „kapitalistische Konsumgesellschaft“ zu protestieren. Willkommen im Reich der Absurditäten.
Doch kaufen Menschen überflüssige Dinge, auf die sie verzichten könnten? Bestimmt. Wer aber soll sich nun die Entscheidung anmaßen, darüber zu befinden, ob ein Kauf nun einem „echten Bedürfnis“ dient oder bloß ein unnötiger Einkauf war? Etwa die Politik? Oder ein Diktator, der je nach Präferenz wieder andere Güter für „notwendig“ erachtet? In welches Elend und Chaos eine solche planwirtschaftliche und zentralstaatliche Lösung führt, haben die unzähligen sozialistischen Experimente unlängst vor Augen geführt.
Viel besser, friedlicher und machtpolitisch unbedenklicher ist es daher, wenn jeder Mensch für sich selbst entscheiden kann, für was er sein Geld ausgeben möchte. Anbieter sollen sich frei um die Gunst der Kundschaft bewerben dürfen. Ja, nicht alle Bedürfnisse dienen dem reinen Überleben, doch sind sie deswegen zu verurteilen? Warum sollte die Selbstverwirklichung in einer liberalen Gesellschaft nicht erstrebenswert und erlaubt sein?
Heute versucht man uns weiszumachen, der Konsum habe etwas Obszönes. Wir werden dazu aufgefordert, mit unserem Lebensstil wieder näher zur Natur zurückkehren: Wir sollen nicht mehr fliegen und Auto fahren, unseren Strom nur noch via Sonne und Wind einholen, uns schämen, wenn wir Dinge online bestellen und sie zu uns nach Hause liefern lassen. Wir sollen besser wieder einen Komposthaufen anlegen und uns einen eigenen Gemüsegarten anbauen. Bei diesen Forderungen schwingt eine große Prise Sehnsucht nach dem Unterentwickelten mit. Sie stellen einen Versuch dar, die unabwendbaren Resultate des Sozialismus schönzufärben, indem man Rückständigkeit als etwas Tolles und Überfluss als etwas moralisch Verwerfliches darstellt.
Doch ist unendliches Wachstum nicht ein Hirngespinst kapitalistischer Gesellschaften? Genügt nicht bereits der Hinweis auf die Knappheit natürlicher Ressourcen, um zu zeigen, dass ewiges Wachstum eine Illusion ist? Wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist, bezieht sich dies nicht allein auf die Quantität der produzierten Güter, sondern auch auf die Qualität. Freie Marktwirtschaften haben nicht nur das Kunststück vollbracht, immer mehr Produkte mit immer weniger Ressourcen herzustellen. Der Wettbewerb unter den Anbietern hat auch bewirkt, dass qualitativ immer hochstehendere Produkte hergestellt werden konnten. So verstanden, ist unendliches Wirtschaftswachstum durchaus realistisch, wenn man der unternehmerischen Kreativität und Innovation keine regulatorischen Grenzen setzt.
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