Staatsentstehung und -entwicklung – Teil 11: Staatsgewalt am Ende?
Perspektiven für eine Revolution
von Stefan Blankertz
Politische Auseinandersetzungen werden nur bis zu einem gewissen Grad von den Ideen bestimmt. Die Ideen sind nicht unwichtig, doch die Basis der Auseinandersetzungen bilden die materiellen Verhältnisse. Keine soziale Bewegung kann entstehen und Erfolg haben, wenn sie nicht zu den materiellen Verhältnissen passt. Die Zielgruppen müssen in mehr als nur idealistischer Hinsicht an einer Umwälzung interessiert sein. Der klassische Liberalismus hatte als Zielgruppe das Bürgertum, das materiell auf eine Befreiung der Märkte angewiesen war. Dieses Bürgertum ließ sich durch die Staatsgewalt völlig vereinnahmen, indem diese ihm versprach, Märkte in seinem Sinne zu manipulieren. Die Zielgruppen des klassischen Anarchismus waren Bauern, Facharbeiter und Handwerker, die wussten, wie sie ihre Arbeit und ihr Leben ohne die Einmischung Dritter meistern würden; wenn sie verarmten, waren sie Lumpenproletarier oder Lumpenbourgeois und dennoch weiterhin mit einem starken Willen zur Selbständigkeit ausgestattet. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind diese Zielgruppen marginalisiert und die Reste durch die Staatsgewalt auf die gleiche Weise wie das Bürgertum integriert worden. Armut zu subventionieren, führt dahin, dass Arme willige Wähler jener Parteien werden, die ihnen mehr Brot und Spiele versprechen. Der durch Staatsgewalt ausgebootete Adel und der verarmte Adel (sozusagen der Lumpenadel) mit vorstaatlicher Nostalgie ist schlicht ausgestorben und fällt als Zielgruppe weg.
Die Erneuerung einer kämpferischen Bewegung für die Freiheit hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, für die Idee der Freiheit Zielgruppen zu erschließen, die ein materielles Interesse an ihr haben. Unter der Bedingung von Freiheit ginge es ja allen besser – das ist eine ausgeleierte liberale Formel, die nicht viel bringt. Sie überzeugt nicht den, der mit kleinem Einkommen eine Wohnung in Berlin sucht und keine vorfindet, die er sich leisten kann, sobald auf der anderen Seite das Versprechen der Politiker lautet, mit einem Federstrich der Staatsgewalt die Mieten am nächsten Tage senken zu können. Langfristig würde dadurch das Angebot an Wohnraum reduziert und die Mieten würden noch weiter steigen – das ist keine überzeugende Antwort. Langfristig sind wir alle tot; das wandte bereits Lord Keynes gegen seine liberalen Kritiker ein. Nützt mir denn ein steigendes Angebot günstigen Wohnraums irgendwann in der Zukunft, wenn ich heute auf der Straße übernachten muss? Was das Versprechen kurzfristiger Abhilfe bei Misere betrifft, hat die Staatsgewalt die Nase allemal vorn.
Freilich läuft sich die Interventionsspirale des Etatismus tot. Das gegenwärtige Zeitalter nenne ich das des Spätetatismus: Jede denkbare Intervention der Staatsgewalt ins freie Handeln der Menschen ist bereits erprobt worden. Bei jeder dieser Interventionen weiß man um die negativen Nebenwirkungen, die mit erneuten Interventionen bekämpft werden müssen, deren negativen Nebenwirkungen ebenfalls bereits bekannt sind (das ist die Interventionsspirale). Im Prozess dieser Interventionsspirale engt die Staatsgewalt das freie Handeln der Menschen ständig weiter ein, der Etatismus legt sich wie eine Zwangsjacke um den Körper der Handelnden, und die Gurte werden auf der Streckbank festgezurrt. Zugleich erscheint den Handelnden die Unfreiheit als umso natürlicher, je länger sie andauert. Gleichwohl ist die Natur des Menschen auf Freiheit angelegt. Noch kein Regime hat es in der Vergangenheit vermocht, den Freiheitsdrang völlig auszumerzen.
Entscheidend wird sein, dass eine erneuerte Bewegung der Freiheit genau die Personengruppen erreicht, die die Zwangsjacke des Systems am stärksten fühlen können, bei denen sich also noch von dem Impuls, das Leben autonom zu bestimmen, etwas erhalten hat. Mit diesen Gruppen gilt es, bestehende Freiräume auszufüllen und neue Freiräume zu schaffen, in denen Selbstbestimmung wieder gelernt werden kann. Es kommen hier der objektive und der subjektive Faktor zusammen, nämlich die objektive Tatsache des Eingeschnürt-Seins und die subjektive Empfindung dieser Situation. Mit einer solchen Bestimmung der Zielgruppen wäre die Bewegung der Freiheit dann auch weg von der klassischen Ausrichtung an sozioökonomischen Kriterien wie Einkommen und Bildungsstand, die schon immer eine wenig zweckdienliche Rolle in den gesellschaftlichen Bewegungen spielte.
Zweifellos war Lenin ein historisches Unglück, die Grundlage für Trotzkismus und für Stalinismus, jedoch auch ein begnadeter Stratege und Analyst. Seine Definition der revolutionären Situation – ihre Kenntnis verdanke ich einem Hinweis von Rothbard – trifft meines Erachtens nach wie vor zu. Für eine revolutionäre Situation finden sich laut Lenin drei Anzeichen, als da wären:
„[1.] Unmöglichkeit für die
herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten;
diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse,
eine Krise, die einen Riss erzeugt, durch den sich die Unzufriedenheit und
Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht. Für den Ausbruch einer
Revolution genügt es gewöhnlich nicht, dass die ‚unteren Schichten‘ nicht mehr
in der alten Weise leben wollen, sondern es ist auch noch erforderlich, dass
die ‚Oberschichten‘ nicht in der alten Weise leben ‚können‘.
[2.] Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das
gewohnte Maß hinaus.
[3.] Infolge der angeführten Ursachen – beträchtliche Steigerung der Aktivität
der Massen, die sich in einer ‚friedlichen‘ Epoche wohl ruhig ausplündern
lassen, in stürmischen Zeiten aber durch die Gesamtheit der Krisenverhältnisse,
ebenso aber auch durch die ‚Spitzen‘ selbst zu selbständigem historischen
Handeln angetrieben werden. Ohne diese objektiven Veränderungen, die nicht nur
vom Willen einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch vom Willen einzelner
Klassen unabhängig sind, ist eine Revolution – als allgemeine Regel – unmöglich.
Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen heißt eben revolutionäre
Situation“ (Wladimir Iljitsch Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale
[1915], in: Werke [in 40 Bänden], Band 21, Berlin-Ost 1968, Seite 206).
Die Begriffe „Ober- und Unterschicht“ werden gemeinhin mit reich und arm identifiziert; unabhängig davon, wen Lenin hier gemeint haben mag, lassen sie sich jedoch leicht als Herrschende und Beherrschte übersetzen. Was ist nun aus Lenins Kriterien zu lernen? Die Herrschaft wirkt sich zugleich auf die Herrschenden aus. Sie stecken ebenfalls in der Zwangsjacke. Die Interventionsspirale führt dahin, dass zumindest Teile der Herrschenden genauso in ihrer ökonomischen Basis gefährdet sind. Außerdem wird auch ihr Handlungsspielraum immer weiter eingeengt. Wenn der Punkt erreicht ist, dass für die Herrschenden sich die Lage durch keine weiteren Interventionen stabilisieren lässt, „können“ sie nicht mehr in der alten Weise leben (lässt sich in der alten Weise das System nicht mehr weiterführen). Dies ist ein objektiver Umstand, den eine revolutionäre Bewegung nicht herbeizuführen vermag; obwohl sie ihn den Herrschenden selbstredend bewusst machen sollte, um unter ihnen die Neigung zu fördern, dass sie selber ihr System infrage stellen. Vor allem aber sollte die revolutionäre Bewegung die Situation ausnutzen, wenn dieser Umstand der Selbstfesselung der Herrschenden in der Entwicklung eingetreten ist. Sie muss mit richtigen Antworten auf die Krise zur Stelle sein und die Unterdrückten darauf vorbereitet haben, die Chance auf Befreiung wirklich zu nutzen, anstatt sich zu einer neuen Herrschaft verführen zu lassen (wie es Lenin und die Bolschewisten in der Oktoberrevolution taten). Und damit sind wir bei dem subjektiven Faktor.
Die Aufgabe der revolutionären Bewegung besteht vor allem in dieser Vorbereitung. Da in jeder Krise vor allem nach kurzfristigen Auswegen gesucht wird, scheint es nahezuliegen, sie in herrschaftlichen Methoden zu suchen, um lange dauernde Auseinandersetzungen zu vermeiden und den Widerstand von uneinsichtigen Mitmenschen brechen zu können. Die revolutionäre Situation – und dies wusste Lenin noch nicht – tendiert dazu, das Aufkommen und den Sieg faschistischer Reaktionen zu begünstigen. Mit faschistischen Reaktionen ist hier gemeint, auf die Krise mit einer Entfesselung der Staatsgewalt zu antworten. In diesem Sinne ist der Bolschewismus eine faschistische Reaktion gewesen. Genauso gut könnte man – weil der Bolschewismus dem Faschismus historisch vorangegangen ist – von einer bolschewistischen Reaktion sprechen und den Faschismus hierunter subsumieren. Ein Abgleiten der Chance auf Revolution in eine Erneuerung der herrschaftlichen Strukturen ist nur dann zu vermeiden, wenn eine genügend große Masse unter den Beherrschten wie den Herrschenden den freiheitlichen Ausweg kennt und will. Dafür, dass diese genügend große Masse unter den Beherrschten da ist, wenn eine revolutionäre Situation eintrifft, sind wir zuständig.
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