04. November 2023 12:00

Ökonomie Was lässt sich wissenschaftlich über das Allgemeinwohl sagen?

Über die Rechtfertigung von Staatseingriffen

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Michelle Aleksa / Shutterstock Pinke Haare – eine reine Geschmacksfrage: Solange das Färben nicht unter Zwang erfolgt

Wenn man sich auf den subjektivistischen Standpunkt der modernen Ökonomie stellt, dann lässt sich nur noch wenig Allgemeingültiges über das allgemeine Wohlbefinden der Menschen sagen. Es ist halt subjektiv und nicht messbar. Und dennoch ist die Ökonomie als Sozialwissenschaft imstande, zumindest ein paar grundsätzliche Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der amerikanische Ökonom Murray Rothbard hatte dazu bereits in den 1950er Jahren einen bedeutenden Artikel publiziert, der bis heute unter Ökonomen und Philosophen kritisch diskutiert wird. Seine zwei zentralen Thesen sind, dass, erstens, der freie Markt die soziale Wohlfahrt immer erhöhe, und dass, zweitens, kein Staatseingriff sie jemals erhöhen könne. Kein Wunder, dass eine solche Radikalität vielen Lesern bis heute sauer aufstößt. Rothbards Argumentation ist zugegebenermaßen lückenhaft und kann manchmal falsch verstanden werden, aber dennoch trifft sie den Kern der Sache: Es ist deutlich schwieriger, Staatseingriffe auf wohlfahrtökonomischer Basis zu rechtfertigen, als es uns die meisten Ökonomen glauben lassen.

Wann kann man von einer Erhöhung der sozialen Wohlfahrt sprechen? Wenn niemand Schaden nimmt und mindestens eine Person bessergestellt wird, dann scheint die Sache unstrittig. Unter diesen Umständen handelt es sich in jedem Falle um eine Verbesserung. Wird aber auch nur einer Person geschadet, kann man dies nicht mehr ohne Weiteres behaupten. Dieses Prinzip ist auch als Pareto-Kriterium bekannt. Es ist der erste Baustein in Rothbards Analyse.

Das zweite zentrale Problem besteht darin, wie man überhaupt wissen kann, ob eine Person besser- oder schlechtergestellt wird. Hier meinen Ökonomen, dass der einzige Wegweiser das sei, was Menschen freiwillig tun – nicht was sie sagen oder was irgendwelche anderen Leute meinen, sondern lediglich das, was sie tatsächlich tun. Menschen demonstrieren ihre Präferenzen in ihren Handlungen. Sie messen der Handlungsoption, für die sie sich entscheiden, einen höheren Wert bei als allen offenstehenden Alternativen. Da Menschen unter Unsicherheit handeln, kann man nicht ausschließen, dass eine Entscheidung ex post, also im Nachhinein, bereut wird. Wir können aber zumindest sagen, dass der Handelnde aus seiner Sicht, ex ante, also im Voraus, durch die gewählte Option bessergestellt wird, relativ zu allen anderen offenstehenden Handlungsmöglichkeiten. Wäre es anders, hätte er anders gehandelt.

Wenn nun bei einer freiwilligen Handlung die Eigentumsrechte aller anderen geachtet werden, dann kann man nach dem Pareto-Kriterium sagen, dass die allgemeine Wohlfahrt (ex ante) gestiegen ist. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie in einem absoluten Sinne gestiegen ist, wie etwa der Alkoholpegel nach dem Trinken einer halben Wodkaflasche. Die allgemeine Wohlfahrt ist etwas komplexer. Wir wissen lediglich, dass sie in einem relativen Sinne gestiegen ist – relativ zu einer kontrafaktischen Handlungsoption, gegen die sich der Handelnde entschieden hat. Tatsächlich können Ökonomen keinerlei Aussagen über den absoluten Stand der allgemeinen Wohlfahrt oder dessen Veränderungen treffen.

Nehmen Sie zum Beispiel an, dass ich mich dazu entschlösse, meine Haare pink zu färben, weil mich meine neue Freundin dazu überredet hat. Der Friseur freut sich über den Umsatz. Mir gefällt die neue Frisur, aber vor allem ist meine Freundin glücklich, denn sie hat auch pinke Haare. Und meine Studenten sind hellauf begeistert. Es gibt aber mindestens eine Person, die dabei einen subjektiven Schaden empfände – vielleicht meine Mutter, der es unheimlich peinlich wäre und die schon immer wusste, dass die neue Freundin nichts taugt. Das Pareto-Kriterium ist also in einem allumfassenden und absoluten Sinne in diesem hypothetischen Szenario nicht erfüllt. Und es lässt sich in der Praxis niemals überprüfen, ob es das ist oder nicht. Deshalb muss man sich fragen, ob an irgendeiner Stelle Eigentumsrechte verletzt wurden. Falls nicht, dann sind die pinken Haare wie ein Wetterumschwung im Herbst. Den einen stört’s, den anderen nicht. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Werden allerdings Eigentumsrechte verletzt, dann kann man objektiv sagen, dass jemand schlechtergestellt wurde. Denn niemand kann gegenüber anderen (oder sich selbst) eine Präferenz dafür demonstrieren, dass die eigenen Eigentumsrechte verletzt werden sollen. Deswegen ist eine Rechtsverletzung aus wohlfahrtsökonomischer (sowie ethischer) Sicht abzulehnen. Um im Bilde zu bleiben: Niemand hat das Recht meine Haare pink zu färben. Könnte ich in irgendeiner Form eine Präferenz dafür demonstrieren, dass jemand mein Recht brechen darf? Nein. Würde ich dem Färben der Haare zustimmen, wäre es kein Rechtsbruch mehr. Es bräuchte keinen Zwang.  

Und genau dies ist der springende Punkt aus Rothbards Sicht. Einen Staatseingriff versteht er als einen Eingriff in die herrschenden Eigentumsrechte. Der Staat verbietet entweder freiwillige Handlungen, die keine Rechte verletzen, oder er erzwingt Handlungen gegen den Willen der Betroffenen. Niemand, dessen Eigentumsrechte dabei verletzt werden, könnte jemals eine Präferenz dafür demonstrieren. Wären die Betroffenen einverstanden damit, wie der Staat ihre Eigentumsrechte einschränkt oder was der Staat mit ihrem Eigentum macht, bräuchte es den Staatseingriff nicht. Es ließe sich auf freiwilliger Basis umsetzen.

Möchte man Staatseingriffe dennoch rechtfertigen, so erscheint es, als müsse man entweder argumentieren, dass Menschen gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen oder was gut für sie ist. Man müsste also paternalistisch argumentieren. Dass Menschen zuweilen tatsächlich gegen ihre Interessen handeln, steht außer Frage. Nur hat noch niemand wissenschaftlich zeigen können, auf welcher Basis die Akteure eines Zentralstaats es zuverlässig besser wissen könnten. Sie können es nicht. Alternativ müsste man argumentieren, dass andere Ziele wichtiger seien als diejenigen, die sich die Menschen selbst setzen. Es gäbe also höhere Ziele als das abstrakt verstandene Allgemeinwohl. Hier verlässt man aber ganz offensichtlich den Boden der Wohlfahrtsökonomik. Staatseingriffe dienten dann nicht mehr dem Allgemeinwohl, sondern ganz offen einem Partikularwohl bestimmter Interessengruppen. Und genau das ist aus Rothbards Sicht ja auch der Fall: Durch seine Eingriffe bedient der Staat Sonderinteressen. Und das kann er nur, wenn er andere Interessen verletzt. Staatseingriffe lassen sich also wohlfahrtökonomisch nicht rechtfertigen.

Murray Rothbard (1956): Toward a Reconstruction of Utility and Welfare Economics


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