Freiheitsespresso XI: Mythos soziale Marktwirtschaft
Hat es sie jemals gegeben? Wäre zurück in die Zukunft erstrebenswert?
von Michael von Prollius (Beendet)
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Die soziale Marktwirtschaft ist oder war die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die soziale Marktwirtschaft bezeichnet ein wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Leitbild. Einen Wirtschaftsstil. Public Relations. Die soziale Marktwirtschaft ist ein beliebig füllbarer Begriff. Die Phase der sozialen Marktwirtschaft dauerte wirtschaftsgeschichtlich von 1948 bis 1966 (Rezession, Konjunkturpolitik, Stabilitätsgesetz) oder nur bis 1960 (zweite erklärtermaßen interventionistischere Phase) oder nur bis 1957 (Rentenreform) oder sogar nur bis 1950 (Etablieren der Marktwirtschaft).
Der Schöpfer des Begriffs, Alfred Müller-Armack, formulierte es so: „Der Begriff der sozialen Marktwirtschaft kann so als ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“ Kurzgefasst: Marktwirtschaft mit Wettbewerb sorgt für Wohlfahrt. Alfred Müller-Armack formulierte das Ziel der sozialen Marktwirtschaft aber auch so: „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Kurzgefasst: Marktwirtschaft sozialstaatlich korrigiert.
Die soziale Marktwirtschaft hatte konzeptionell und praktisch mehrere Väter oder zumindest Patenonkel. Ludwig Erhard hielt bekanntlich die Marktwirtschaft per se für sozial. Der Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, Alexander Rüstow, gleichsam der Linke unter den Neoliberalen, übte scharfe Kritik, weil zum Beispiel Ende der 50er Jahre eine aus seiner Sicht überbordende Staatsquote von rund 30 Prozent des Bruttosozialprodukts erreicht worden war. Für Walter Eucken kam es darauf an, dass der Staat nur bei einem Scheitern von Selbsthilfe und privater Versicherung unterstützend eingriff.
Entsprach die soziale Marktwirtschaft überhaupt jemals der Intention, so wie sie von Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister und späterer Bundeskanzler gedacht war? Zweifel sind angebracht. Das liegt nicht nur am fehlenden klaren messbaren Konzept. Vielmehr war bereits die Realisierung der sozialen Marktwirtschaft mit fundamentalen Verstößen gegen zentrale Auffassungen Erhards und gegen liberale Prinzipien verbunden. Das vermeintliche liberale Wirtschaftswunder wies beträchtliche etatistische, durch Lobby-Interessen und staatliche Eingriffe gestaltete Zäsuren auf. Das Bundeswirtschaftsministerium vollzog frühzeitig in den 1950er Jahren einen zunächst subtilen Wandel zu einer schrittweisen interventionistischen Politik mit planungs- und konjunkturpolitischem Aktivismus bei wachsendem keynesianischen Einfluss. Ab 1960 drängten gesellschaftliche, raumpolitische und ökologische Aspekte in den Vordergrund. Die Wirtschaft verpolitisierte.
Zu den Verstößen gegen Erhards liberale Auffassungen gehört bereits 1951 die Zwangsanleihe der Konsumgüterindustrie zugunsten der Schwerindustrie. Anschließend breitete sich ein Gefälligkeits- und Wirtschaftsstaat aus, mit Zuwendungen an zahlreiche soziale Gruppen und mit der Rentenreform von 1957, die der CDU die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl brachte. Die Sozialausgaben stiegen drastisch: 1965 wurden in mehr als 16 Millionen Fällen Sozialleistungen in Höhe von 112,7 Milliarden D-Mark gewährt. 1955 waren es noch 29,5 Milliarden D-Mark gewesen. Zugleich verdreifachte sich nahezu das durchschnittliche Monatseinkommen von 1955 in Höhe von 570 D-Mark für Angestellte und Beamte auf 1.469 D-Mark im Jahr 1970. Der Staat gab Geld der Bürger aus für Wohnungsbau, Wohngeld, vermögensbildende Prämien, Eigenheimbauförderung, Sozialhilfe, Dynamisierung der Unfallrenten und so weiter, und so fort. Erwähnt sei schließlich noch das von Lobbyinteressen verschleppte und durchlöcherte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränken von 1957.
Von Beginn an war die soziale Marktwirtschaft durch bemerkenswert hohe Staatsausgaben, eine international hohe, wenn auch sukzessive reduzierte Steuerbelastung, erhebliche staatliche Interventionen und Regulierungen, aber auch Staatsbesitz an Unternehmen gekennzeichnet – von der Eisenbahn über Post und Telekommunikation, eine Fluggesellschaft bis hin zu Volkswagen (1960 teilprivatisiert).
Exemplarisch verkörpert der parteilose Ordoliberale Otto Schlecht die soziale Marktwirtschaft. Er war unter sechs Kanzlern und acht Wirtschaftsministern tätig, von Ludwig Erhard bis Jürgen Möllemann, und 18 Jahre lang Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Schlecht trat in den 1970er Jahren dezidiert für einen „pragmatischen Ansatz ständiger Anpassungen“ und „dauernde Kompromisse“ ein. Er forderte eine „wirtschaftspolitische Planung innerhalb der Marktwirtschaft“ und wurde als „Inkarnation der beweglichen Grundsatztreue“ bezeichnet – eine Formulierung, die er selbst schätzte. Tatsächlich endete die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftspolitik spätestens mit dem Übergang zur „aufgeklärten Marktwirtschaft“ unter Karl Schiller, den Schlecht gut fand, mit den SPD-geführten Regierungen.
Was bleibt? Erstens: die soziale Irenik, die Müller-Armacks Idee zugrunde liegt. Eine politisch-medial wirksame Formel, die unterschiedliche Weltanschauungen und Lager versöhnen konnte. Zweitens: der unwahrscheinliche Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung als Leitbild und Praxis ab 1948. Drittens: das vielstimmige öffentliche Werben führender Politiker und Ökonomen für Marktwirtschaft, Wettbewerb und Leistung; das war zugleich ein Werben für eine Kultur und für Werte, die alternativlose Bedingungen für eben Marktwirtschaft, Freiheit und Wohlfahrt sind.
Walter Eucken hat die berühmte Frage aufgeworfen, die heute wieder so aktuell ist: „Wie muss die Wirtschafts- und Sozialordnung beschaffen sein, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann?“
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