24. Dezember 2023 07:00

Freiheitsespresso XIX War der deutsche Nationalstaat alternativlos?

Über einen Pfadbruch, das „Alte Reich“ und machtpolitische Inspiration

von Michael von Prollius (Beendet)

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Bildquelle: Wikimedia Das Heilige Römische Reich, auch als Altes Reich bezeichnet, circa 1740: Ein aus zahlreichen Territorien bestehender Verband

Der deutsche Nationalstaat war weder alternativlos noch die beste Lösung für die Menschen in Deutschland und Europa. Die Geschichte bietet spannende Einblicke in die jahrhundertelange wechselhafte Staatsgeschichte und die Organisationsformen mit dem Fokus auf Austarieren von politischer Macht. Dieter Langewiesche, namhafter Professor Emeritus für Mittlere und Neue Geschichte, geht in „Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte“ (2020) der vorherrschenden Ansicht auf den Grund, dass die Entwicklung zum Nationalstaat, zur Vollendung durch die Reichsgründung gedrängt habe. Sein Resümee: „Der Nationalstaat war ein Geschichtsbruch.“

Eine Bedeutung seines Essays liegt im Aufzeigen und Betonen alternativer Ordnungen im Prozess der Macht- und Staatsverdichtung; zugleich wird deutlich, wie sehr die Bewertungen geschichtlicher Prozesse im Laufe der Zeit wechseln: von der ersehnten und verherrlichten Reichsgründung eines Nationalstaats über dessen Verdammung bis hin zur erklärten Normalität einer vollendeten Entwicklung und deren Hinterfragen.

Die Besonderheit des Alten Reichs, das bis 1806 bestand, war seine Mehrstaatlichkeit, die mit einer Machtbalance durch Polyzentrik einherging. Das ist etwas, das heute in Deutschland und der EU große Aktualität besitzt, aus freiheitlicher Perspektive auch besitzen sollte, zumal das Alte Reich ein europäisches Gebilde war. Vielleicht kann das Alte Reich Impulse für ein Austarieren von Macht bieten.

Das in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 enthaltene Wiedervereinigungsgebot könne in nationalstaatlicher Hinsicht nur auf einen „Wimpernschlag in der langen Geschichte der Deutschen“ Bezug nehmen. Das gilt gerade für eine politisch mehr als nur zwölf Jahre währende hochproblematische Zeit von 1871 bis 1945. Was deutsch ist, kann als langer, uneindeutiger, machtpolitisch konnotierter, kollektivistischer Konstruktionsprozess begriffen werden, besonders als Nationalstaatsstreben. So waren die Vorstellungen der Deutschen über ihre Nation entweder kleindeutsch-nationalstaatlich oder völkisch-national oder kulturnational geprägt.

Das Alte Reich wird gemeinhin abwertend mit Begriffen belegt wie Partikularismus, Zersplitterung, Flickenteppich. Erst Kriege führten indes zu einem Nationalstaat, der Kolonialismus und Imperialismus betrieb und zumindest anteilig verantwortlich war für die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Das Alte Reich war hingegen nie expansiv.

Das Alte Reich umfasste eine einheitliche Nation ohne einheitlichen Nationalstaat. Vielmehr etablierte sich ein Föderalismus, der Macht begrenzte und Räume der Selbstbehauptung zuließ, eine multikulturelle, multistrukturelle, verflochtene Staatlichkeit, mit einem nicht-erblichen Kaiser an der Spitze, mit Reichstag, Reichsgerichten und Reichskreisen, Fürsten und ihren Ländern, Ständen und einer seit 1500 föderalen Reichsverfassung.

Schon die Zeitgenossen waren sich uneins über den Charakter des Staats, Staatenbundes, Nicht-Staats, Reichs-Staats, überstaatlichen Reichsverbunds, Staats deutscher Nation, übernationalen Personenverbands. Bewegung und Bewahrung zeichneten das Alte Reich aus, das über Jahrhunderte hinweg zahlreiche fundamentale Krisen und Kriege gefestigt überstand, mit einem tief verankerten Föderalismus.

Das variable Reichsgebilde bestand aus Reich, zuständig für Außenverteidigung und Rechtssystem, Reichskreisen, zuständig für Exekutionswesen und Infrastruktur, sowie Territorialstaaten, zuständig für Verwaltung und Disziplinieren der Untertanen. Eine Art föderativer Mehr-Ebenen-Staat mit hierarchischem und genossenschaftlichem Zusammenwirken.

Nachdenklich stimmt einmal mehr, wie sehr sich Menschen für letztlich abstrakte Staatlichkeit opfern können und in Kriegen geopfert werden, besonders für die Nation, für den Nationalstaat. Auffällig ist zudem, wie sehr der Sozialstaat Zentralisierung und Machtverdichtung befördert hat. Schließlich waren Bastionen der Freiheit und speziell des Liberalismus klein- und mittelstaatliche Gebiete. Und es waren nicht zuletzt die kleinen Ordnungseinheiten, die Reformen wagten.

Welche Impulse lassen sich daraus gewinnen angesichts vielkritisierter Bürgerferne und Elitenkritik heute? Und was lässt sich von dieser alten Konföderation für eine moderne Variante nutzen?


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