Die Psychologie der Politik: Ein Ring, sie zu knechten
Finale
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
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Nicht wenige klassische Dichter und Denker verfolgten die Intention, ihr Publikum aufzuklären. Zu ihnen gehört auch der weltberühmte Komponist Richard Wagner (1813–1883), der mit seinem „Ring des Nibelungen“ den Herrschern seiner Zeit (1876 in Bayreuth) einen Spiegel vorhalten wollte. In seinem vierteiligen Zyklus vom „Rheingold“ über die „Walküre“ und „Siegfried“ bis zur „Götterdämmerung“ zeigt der Komponist, wozu Macht- und Habgier führen müssen. Vicco von Bülow (1923–2011), auch bekannt unter dem Namen Loriot, sagte über Wagners Ring 1992 ironisch: „Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind eigentlich ganz nette Leute. Nur eine gemeinsame Leidenschaft wird ihnen zum Verhängnis. Sie wollen mehr besitzen, als sie sich leisten können, mehr Macht als ihnen zusteht. In blindem, lieblosem Gewinnstreben vernichten sie sich selbst und ihre Welt. – Zum Glück gibt es ja dergleichen nur auf der Opernbühne.“
Der Ring des Nibelungen
Wagner erkannte bereits die Psychologie hinter dem Machtstreben, nämlich dass es Angst und Neid sind, von denen die Machthungrigen wie besessen sind. Den Zwerg Alberich, der der Liebe abschwor, um den Ring der Macht schmieden zu können, lässt Wagner sagen: „Wer ihn [den Ring] besitzt, den sehre die Sorge, und wer ihn nicht hat, nage der Neid! Jeder giere nach seinem Gut, doch keiner genieße mit Nutzen sein’; … des Ringes Herr als des Ringes Knecht …“
Damit zeigt Wagner das Drama der Geschichte der Zivilisation, die Tragödie der erzwungenen Herrschaft. Menschen können freiwillig kooperieren oder sie können einander bedrohen und zwingen, um an die Leistungen und den Besitz anderer zu gelangen. Wer in einer dominierten Gesellschaft nicht zu den Herrschern gehört, der ist Beherrschter. Also will jeder Machthungrige dazu gehören zur „Clique an der Macht“ (Henry Hazlitt, 1894–1993). Ludwig von Mises (1881–1973) schrieb später über die propagierte Herrschaftsform seiner (und unserer) Zeit: „Das Schlimmste, was einem Sozialisten passieren kann, ist, wenn sein Land von Sozialisten regiert wird, die nicht seine Freunde sind.“
J. R. R. Tolkien griff Wagners Ring-Idee in seinem Epos „Der Herr der Ringe“ auf, in welchem er es ebenfalls als einzige Lösung der „Tragödie der Geschichte“ ansieht, also des Ringens um die Macht, dass es keine „dominierte Gesellschaft“ geben dürfe. Der Ring muss weg! Während Wagners Ring wieder in den Rhein zurückgeworfen wird, um den „Unschuldszustand“ wiederherzustellen, lässt Tolkien seinen „Ring, sie zu knechten“ im Feuer des Schicksalsbergs vernichten, in dem er geschmiedet wurde.
Die äußere Vernichtung des Ringes der Macht ist eine Allegorie zum Denken der Menschen, zu ihren Haltungen zu sich und der Welt. Es wird gezeigt, dass die Bejahung von Herrschaft über friedliche Menschen notwendigerweise zu der Tragödie führt, dass die Herrscher wegen des Unterdrückens friedlicher Untertanen stets „mit dem Rücken zur Wand“ stehen (Angst vor Machtverlust). Unter diesem „Rechtfertigungsdruck“ für ihre Herrschergelüste müssen sie die Betroffenen mit allerlei intellektuellem Brimborium indoktrinieren und „gaslighten“, damit diese „gestockholmt“ bleiben, und untereinander ringen die Herrschsüchtigen um die Hebel an der Macht. Dabei zerstören sie die Gesellschaft. Sowohl Wagners als auch Tolkiens Werk haben also einen allegorischen „erwachsenen“ Erzählstrang als auch einen „infantil-phantastischen“, wenn man die Allegorie nicht begreift und die Handlung nur als bildgewaltige „Fantasy“ wahrnimmt.
Parsifal
Wagner geht jedoch noch einen Schritt weiter als Tolkien. In seinem letzten Stück zeigt er das erste Mal in seinem weltdeutenden Mythos vom „Holländer“ bis zum „Parsifal“ einen Helden, der nicht scheitert. Das Stück Parsifal handelt im Wesentlichen von dem, was Immanuel Kant (1724–1804) als „Ausgang aus der Unmündigkeit“ beschrieb, also vom Erwachsenwerden im Sinne der Befreiung aus dem „geistigen Gängelwagen“ (Kant), worin man eingesperrt wurde und worin man als Kind erst einmal – ganz natürlich – eingesperrt ist, weil einem die Verstandesfähigkeiten zu Anfang noch abgehen.
Das Muttersöhnchen Parsifal, der isoliert von der Welt aufgewachsen ist, verirrt sich im Gebiet der Gralshüter. Die geistige Klarheit des Gralshüter-Königs Amfortas und seiner Ritter ist erloschen. Der Gral als Symbol der Erlösung von seelischen Qualen ist nicht in der physischen Welt zu finden, sondern allegorisch gesprochen an einem Ort, zu dem keine Straße führt, also in der Psyche der Menschen. Der Zauberer Klingsor hat die Gralsritter und ihren Anführer Amfortas mit seinen Blumenmädchen und seiner Top-Doppel-Agentin Kundry verführt und sie des Speers, ein Symbol der Macht wie der Ring, beraubt. Klingsor hat Amfortas mit dem Speer eine (seelische) Wunde zugefügt, die es ihm verwehrt, seine Aufgabe als Hüter des Grals fortzuführen.
Parsifal, zu Anfang der „Reine Tor“ genannt, entdeckt auf seiner Heldenreise, dass die Gralsritter sich mit ihren Begierden identifizierten, mit ihrem „falschen Ich“ oder „Ego“. Nach erfolgreichem Widerstand gegen die Ober-Verführerin Kundry kann Parsifal dem Widersacher Klingsor den Speer wieder wegnehmen und nach einem „Purgatorium“, also einer Läuterungsreise, kann er Amfortas mit dem Speer heilen und den Schrein, der den Gral enthält, für immer öffnen („Nicht soll er mehr verschlossen sein: Enthüllet den Gral, öffnet den Schrein!“). Er bringt der Ritterschaft und allegorisch den Menschen die Erlösung von ihren psychischen Qualen. Im Hintergrund singt der Chor zum Abschluss: „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser!“
Inferno
Der Gral als das Symbol der Erlösung von seelischen Qualen wird präsentiert nach dem Karfreitagszauber (Ende des Purgatoriums: „Nun freut sich alle Kreatur / Auf des Erlösers holder Spur“), und bereits am Karfreitag im Jahre 1300 stieg Dante Alighieri (1265–1321) in seiner Commedia (Göttliche Komödie) hinab zu den Kreisen der Hölle, nachdem er sich in seines „Lebensweges Mitte … in einem dunklen Walde fand“, denn „abgeirrt war ich vom rechten Wege.“
Dante begibt sich in das Inferno der Seelen, die in den unteren Höllenkreisen von Machtgier und Habsucht besessen sind und deren seelische Qualen, aus denen die Herrschsucht herrührt, er allegorisch beschreibt. Die allerschlimmsten Höllen-Insassen, modern würde man „Psychopathen“ sagen, sind keiner seelischen Regung mehr fähig und erleiden in diesem Sinne auch keine Qualen, denn ihre Seelen liegen schon gefroren im tiefsten Höllenkreis, während ihre Körper unbeseelt, aber lebendig Schaden stiften, so die Allegorie. Nach dem Eingang zur Hölle mit der berühmten Inschrift „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren“, teilt Dantes Führer Virgil ihm mit, dass sie nun die „schmerzerfüllten Scharen“ treffen werden, „die der Erkenntnis hohes Gut verloren“, die sich also im „falschen Ich“ verirrt haben.
Dante und Virgil steigen durch die Hölle hindurch und hinauf zum Läuterungsberg, wo sich die „Seelen“ allegorisch aus dem „geistigen Gängelwagen“ befreien. Erst dann sind sie bereit zum weiteren Aufstieg in die Himmelskreise, also zur vollumfänglichen Erkenntnis ihres wahren Selbst.
Zauberlehrling
Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) erkannte in seinem Zauberlehrling 1797, ebenso wie Immanuel Kant dies bereits 13 Jahre zuvor beschrieb, wozu es führen muss, wenn mit sprachlicher Verwirrung oder „Gaslighting“, also mit Narrativen, die Herrschsüchtigen versuchen, sich „Wasserträger“ zu schaffen. Die Narrativstricker laufen Gefahr, selbst unter das Joch zu geraten, unter dem sie ihre psychologisch manipulierten Untertanen gehalten haben, so Kant. Es kommt sozusagen zu einer Massenbildung (Matias Desmet) unter den „Wasserträgern“, und der Zauberlehrling klagt: „Die ich rief, die Geister / Werd‘ ich nun nicht los.“ Es könnte sein, dass es einen guten Grund für Walt Disney gegeben hat, wieso er 1940 gerade den „Zauberlehrling“ als Farb-Zeichentrickfilm aufwendig mit Orchester inszenierte.
Und ebenso wie Wagner und Dante stellte Goethe nicht nur die Tragödie unserer Zivilisation dar, also das Ringen um Herrschaft „im Auftrag des falschen Ichs“, sondern auch den Ausgang aus der persönlichen Betroffenheit hiervon, wenn er seinen Leitspruch kommentiert: „Gott begegnet sich immer selbst, Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen: Daher keiner Ursache hat, sich gegen den Größten gering zu achten.“
Jakobsleiter
Der bekannte kanadische Psychologe und Therapeut Jordan Peterson thematisierte in einer inspirierenden und emotionalen Ansprache bei ARC („Alliance for Responsible Citizenship“) vor kurzem die alt-testamentarische Jakobsleiter als weiteren Klassiker zum Verständnis des Selbst.
Jordan Peterson machte deutlich, dass es einer menschlichen Seele nicht ausreiche, in ihrem „falschen Ich“ zu verharren, sondern dass uns die Erkenntnis nach dem Wesenskern unseres Seins antreibt, ähnlich wie bereits Viktor E. Frankl (1905–1997) die „Sinnsuche“ als wesentliches psychisches Bedürfnis erkannte.
Peterson beschreibt den Leidensdruck, den der „geistige Gängelwagen“ oder das „falsche Ich“ erzeugt: „Etwas, das Psychologen in den letzten 20 Jahren entdeckt haben, ist: Es gibt technisch gesehen keinen Unterschied dazwischen, über sich selbst nachzugrübeln und sich elend zu fühlen.“ Diese Art von „Ego-Grübelei“ führe dazu, dass man in Angst versinke und seinen Halt verliere. Der Mensch müsse das Ego verlassen und sich einem höheren, ego-transzendierenden Zweck verschreiben.
Mit dem Bild der Jakobsleiter beschreibt Peterson, und ich kann das hier nur ganz kurz zusammengefasst wiedergeben, dass der Mensch am unteren Ende der Leiter beginnen müsse, gesellschaftliche Strukturen für sich und andere zu errichten, die zu Harmonie führten, die ihn zu einem „guten“ Mittelpunkt für sein Umfeld machten und die eine tragfähige Sprosse hin zur nächsten Stufe der Jakobsleiter seien. Und so werde – Sprosse um Sprosse – die ganze Dimension menschlicher Existenz bis zur höchsten himmlischen Sphäre verwirklicht.
Das alt-testamentarische Bild der Jakobsleiter, die vom Erdboden bis hin zu den himmlischen Sphären die gesamte Dimension des Menschseins und der menschlichen Seele versinnbildlicht, ähnelt dabei Dantes Bild der „Himmelsleiter“ in seiner Commedia, die allerdings zunächst hinab führt von der irdischen Welt in das Inferno und dann wieder hinauf über das Purgatorium bis zu den himmlischen Sphären.
Schlussbetrachtung
Liebe Leserinnen und Leser, in zwölf Teilen habe ich Sie durch die Psychologie der Politik geführt, die letztlich Teil der Psychologie der Menschen ist. Es braucht nicht viel, um zu erkennen, in welchem „geistigen Gängelwägen“ viele unsere Mitmenschen befangen sind und wie manche danach trachten, sie dort eingesperrt zu halten. Wenn Sie versuchen, Ihre Mitmenschen aus deren „geistigem Gängelwagen“ zu befreien, ohne dass diese bereit dazu sind, werden Sie es – emotional gesehen – mit trotzigen Dreijährigen zu tun haben, die Ihnen das Leben „zur Hölle“ machen möchten. Sie können also nur Angebote machen oder hier und da Fragen aufwerfen, die nicht schon dazu führen, dass Ihr Gegenüber „getriggert“ wird und dann ganz wahrscheinlich mit einem Argument „ad hominem“, also mit einer Beleidigung oder Verunglimpfung oder dergleichen reagiert. Das eine oder andere Mal wird dies voraussichtlich auch schiefgehen.
Immanuel Kant sagte, das „Publikum“ könne nur langsam zur Aufklärung gebracht werden. Und Edward Bernays (1891–1995) wie Ludwig von Mises erkannten, dass die Masse der Menschen nicht ihre eigenen Ideen entwickelt, sondern diejenigen ihrer Vorbilder übernimmt. Was Sie und ich tun können, ist – mit Kant gesprochen –, diejenigen unter den Vorbildern des Publikums, die mit dem eigenen Denken bereits begonnen haben oder bereit dazu sind, zum eigenen Denken motivieren und sie dabei unterstützen, sodass diese ihren Weg zum Purgatorium finden beziehungsweise ihren Beitrag dazu leisten, der Himmelsleiter, deren Sprossen in den vergangenen Jahrhunderten so sehr gebrochen sind, wieder Stufe um Stufe hinzuzufügen.
Wir müssen hierzu nichts neu erfinden. Die Tragödie ist so alt wie die Zivilisation selbst und es gibt genug „Klassiker“, die sie bereits bedeutsam beschrieben haben. Diese Klassiker wurden geistig „verzwergt“ und es fehlt vielen ein Schlüssel, um den Sinngehalt zu erkennen. Mit dieser Reihe über „die Psychologie der Politik“ habe ich versucht, einen solchen Schlüssel zur Verfügung zu stellen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
Quellen:
„Ich bin die Revolution“ – Im Ring des Nibelungen lässt es Richard Wagner Machtpolitikern und Geldmonopolisten dämmern (Andreas Tiedtke)
Elon Musks Twitter-Schachzug und was er für die “Clique an der Macht” bedeutet (Michael Rectenwald)
Marxism Unmasked: From Delusion to Destruction (Ludwig von Mises)
The most inspiring speech Jordan Peterson has ever given (Jordan Peterson, ARC)
Der Mensch auf der Suche nach Sinn (Viktor E. Frankl)
Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke)
Kommentare
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