11. November 2023 12:00

Ökonomik Die Wertfreiheit als Anspruch der Wissenschaftlichkeit

Propheten und Demagogen gehören nicht auf das Katheder eines Hörsaals

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Matej Kastelic / Shutterstock Weber’sches Ideal der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften: Im Universitätsunterricht tatsächlich umsetzbar?

Die Ökonomik ist eine junge Disziplin. Aber ökonomische Fragestellungen haben schon seit jeher die Gelehrten beschäftigt. Sie wurden traditionell in Abhandlungen über theologische oder moralphilosophische Probleme, gewissermaßen nebenbei, behandelt. Erst mit den Arbeiten des schottischen Aufklärers Adam Smith, der selbst einen Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Universität Glasgow innehatte, hat sich die Ökonomik zunehmend als eigenständige Disziplin abgespalten. Diese Entwicklung ist gewiss kein Alleinstellungsmerkmal der Ökonomik. Letztlich haben alle Wissenschaften ihren Ursprung in der Philosophie. Sie alle haben einen philosophischen Unterbau. Für die Ökonomik als Sozialwissenschaft ergeben sich aber besondere Herausforderungen im Hinblick auf das, was weitläufig als höchster Maßstab der Wissenschaftlichkeit gilt – die Wertfreiheit.

Versteht man die Ökonomik als Bestandteil einer breiteren Moralphilosophie, so kann sie nicht als völlig wertfrei gelten. Wenn man die weitverbreitete Position teilt, dass Moral immer mit Werturteilen einhergeht und nicht gänzlich objektiv sein kann, drängt sich diese Schlussfolgerung geradezu auf. Die Frage nach der Möglichkeit einer werturteilsfreien Ökonomik wird gerade vor diesem Hintergrund bedeutsam.  

Spätestens seit den einflussreichen Arbeiten Max Webers ist es der Anspruch der Ökonomik, genauso werturteilsfrei zu sein, wie es die Naturwissenschaften schon seit Längerem waren. Dabei ist klar, dass jeder Ökonom, so wie jeder andere Mensch, Werturteile in sich trägt – für den einen ist die individuelle Freiheit das höchste Gut, für den anderen ist eine spezielle Vorstellung von Gleichheit erstrebenswerter. Als Wissenschaftler, so Weber, sei man jedoch dazu angehalten, von seinen Werturteilen Abstand zu nehmen.

Weber hielt am 7. November 1917 in München auf Einladung des Freistudentischen Bundes eine Rede unter dem Titel „Wissenschaft als Beruf“. In dieser später schriftlich publizierten Rede forderte er, dass der Professor vor Studenten seine politischen Überzeugungen in den Hintergrund treten lassen müsse. Wer das Katheder eines Hörsaals zur Verbreitung einer politischen Überzeugung nutze, mache sich an den Studenten schuldig und werde seiner Verantwortung als wissenschaftlicher Lehrer nicht gerecht. Webers Grundsatz lautet: „Politik gehört nicht in den Hörsaal“, und zwar weder vonseiten der Dozenten noch vonseiten der Studenten.

Im historischen Kontext seiner Zeit ist Webers Forderung nur allzu nachvollziehbar. Und auch mit Blick auf die Politisierung der Schulen und Hochschulen in unserer Zeit sehnt man sich zuweilen nach einer größeren Entschlossenheit, dem Weber’schen Ideal gerecht zu werden. Zuweilen wünscht man sich, dass es überhaupt als erstrebenswert anerkennt wird. Das Verhalten vieler Studenten und Hochschullehrer, die ganz offen im Kontext des Universitätslebens bestimmte politische Positionen propagieren, lässt nicht darauf schließen, dass Max Webers Grundsatz besonders ernst genommen wird. Aber sollte man es überhaupt ernst nehmen?

Dem aufmerksamen Leser wird an dieser Stelle nicht entgehen, dass sich die Katze in den Schwanz zu beißen droht. Womöglich hat sie es schon. Das Weber’sche Ideal lässt sich nämlich selbst nicht objektiv-wissenschaftlich begründen. Es birgt vielmehr ein Werturteil in sich. Warum sollte man es also ernst nehmen? Kann man nicht mit dem Brustton der Überzeugung dafür eintreten, dass gerade ein Professor in der Pflicht sei, drohenden politischen Gefahren entgegenzuwirken, und zwar nicht nur mit nüchterner Analyse, sondern auch durch mitreißendes Ethos?

Weber ist sich völlig im Klaren darüber, dass seine Forderung selbst ein Werturteil beinhaltet. Er schreibt: „Nun kann man niemandem wissenschaftlich vordemonstrieren, was seine Pflicht als akademischer Lehrer sei. Verlangen kann man von ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, dass Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle – dass dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaal behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören.“

Und warum ist das so? Weil die Wissenschaft nur die Aufgabe hat, objektive Wahrheiten einzugrenzen und zu ergründen. Sie soll erklären, wie der Mensch seine Umwelt technisch beherrschen kann (Naturwissenschaft). Sie soll erklären, was, wenn bestimmte Rechtsregeln und bestimmte Methoden ihrer Deutung als verbindlich anerkannt sind, nach den Regeln der Logik und den Konventionen des juristischen Denkens gilt (Jurisprudenz). Sie soll erklären, wie bestimmte politische Systeme im Vergleich zu anderen funktionieren oder auch nicht (Politikwissenschaften). Sie soll erklären, was die zum Teil unerwarteten Folgen eines wirtschaftspolitischen Eingriffs unter bestimmten Voraussetzungen sein können oder welche wirtschaftspolitischen Eingriffe dazu geeignet wären, um bestimmte Ziele zu erreichen, wenn diese bereits als gegeben angenommen werden (Ökonomik).

Kurzum, die Wissenschaft hat Tatsachen aufzudecken, die den Menschen in ihren Entscheidungen nützlich sein können. Sie hat aber die Entscheidungen und die damit einhergehenden Wertungen nicht vorzugeben. Sie soll vielmehr, und das trifft auf die Philosophie im Allgemeinen zu, die Menschen darüber aufklären, welche zum Teil impliziten und unbewussten Werturteile bei bestimmten politischen Forderungen mitschwingen und welchen Werturteilen sie womöglich widersprechen. Dabei muss der Wissenschaftler nicht zwingend selbst eine wertende Position beziehen. Aber es erscheint intuitiv klar, dass dieses Vorgehen im Sinne einer reinen Wertfreiheit auch seine Grenzen hat.

Der Ökonom, der wirtschaftspolitische Fragen erörtert, kann sich nicht ganz von einer moralischen Verantwortung freimachen. Wenn er erklärt, wie eine Volkswirtschaft zu ordnen sei, damit sie besonders effizient Militäreinsätze unterstützen kann, tut er dies womöglich völlig wertfrei – also ohne zu sagen, ob der eine oder andere Krieg zu befürworten sei. Der Ökonom, der erklärt, wie man die Bevölkerung am effizientesten besteuert, ohne dass darunter die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes zu sehr leide, kann dies auch grundsätzlich wertfrei tun. Durch die Auswahl der zu beantwortenden Fragen nimmt er allerdings schon so etwas wie eine Wertung vor. Er misst den ausgewählten Fragen gegenüber anderen möglichen Fragen eine größere Wichtigkeit bei. Und wenn man fordert, der Ökonom solle in seiner Analyse nicht moralisieren, dann überträgt man ihm allein damit schon eine moralische Verantwortung. Es ist ein Eingeständnis, dass die Ökonomik, und womöglich jede andere Wissenschaft, nicht vollends von der Moral zu trennen ist. Es bleibt, wie Weber sagt, nur der Appell an die wissenschaftliche Redlichkeit. Die letzte Instanz ist das Gewissen.      

Max Weber (1917): Wissenschaft als Beruf


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