Gesellschaftlicher Diskurs: Unparteiisch glücklich
Warum die Sucht nach Parteinahme das Zusammenleben erschwert
von Oliver Gorus
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Ich zum Tankwart, von dem ich weiß, dass er fußballbegeistert ist: „Das war ein wirklich starkes Spiel gestern Abend von den Bayern. Taktisch und kämpferisch. Und großartige Tore!“
Er: „Ich bin kein Bayern-Fan.“
Das Gespräch war beendet. Dieser Reflex des Nicht-Bayern-Fans ließ mich ratlos zurück. Aber was da in dem schlichten Gemüt des Tankwarts vor sich gegangen war, hat größere Tragweite. Denn da steckte eine Menge drin von dem, was es in unserer zunehmend auseinanderfallenden Gesellschaft so schwer macht, vernünftig miteinander zu reden.
Dafür oder dagegen
Zunächst einmal ist es komplett unlogisch und eine rationale Fehlleistung, aus einer positiven Meinung über ein Fußballspiel abzuleiten, dass derjenige, der sich da positiv äußert, ein Fan der gut spielenden Mannschaft sein müsse. Ich bin genauso wenig Bayern-Fan wie der Tankwart. Er glaubt aber, wer ein Spiel der Bayern gut findet, müsse Bayern-Fan sein. Im Umkehrschluss: Weil er kein Bayern-Fan ist, findet er nie ein Spiel der Bayern gut. Denn das geht ja nicht, weil er sie ja nicht mag.
Eine Meinung äußern ist für ihn – und für die meisten – eine Parteinahme. Indem man etwas Positives über eine Person oder ein Kollektiv sagt, ergreift man Partei für diese Person oder dieses Kollektiv. Würde man nicht Partei ergreifen wollen, würde man sich gar nicht äußern. Wenn man Gegnerschaft ausdrücken will, würde man etwas Negatives sagen.
Würde ich dem Tankwart entgegnen, dass ich auch kein Bayern-Fan bin, würde er mich verständnislos anschauen und mich fragen, warum ich die Bayern dann so toll finde.
Würde ich dann sagen, dass ich die Bayern gar nicht so toll finde, sondern nur das Spiel toll fand, würde er gar nichts mehr verstehen.
Denn, das ist der nächste Punkt: Die meisten Leute sind im Differenzieren extrem ungeübt.
Selenskyj-Verehrer oder Putin-Pudel
Auf den aktuellen Nahostkonflikt bezogen, der gerade durch die Öffentlichkeit tobt und fleißig spaltet, geht das etwa so: Wer sich entsetzt über die Massaker vom 7. Oktober äußert, wird von einem großen Teil der Leute der „Partei“ Israel zugeordnet. Also heißt man in deren Augen auch alles gut, was Israel macht. Und dann findet man somit auch gut, wenn Israelis Palästinenser schlecht behandeln. Und dann hasst man natürlich die Palästinenser. Und alle Araber. Und alle Moslems … und plötzlich stehen sich zwei große Gruppen gegenüber: auf der einen Seite unter der Palästinenserflagge und dem Hashtag #FreePalestine in etwa Araber, Moslems, Sozialisten, Woke, Antiwestliche, Antibürgerliche, also die „guten Menschen“, auf der anderen Seite unter der Israelflagge und dem Hashtag #IstandwithIsrael in etwa Juden, Rechte, Westliche, Bürgerliche, also die „Nazis“. Dabei ist diese infantile Zuordnung weder realistisch noch hilfreich. Aber eben massenkonform.
Oder: Sie sagen, dass Schweden die Coronazeit besser bewältigt hat als Deutschland. Dann werden Leute Sie in die „Partei“ Schweden einordnen und ableiten, dass Sie alles, was der schwedische Staat macht, gut finden. Egal, welcher sozialistische Quatsch das ist.
Oder: Sie sagen, dass Trump in den letzten Jahrzehnten der einzige US-Präsident war, der keinen Krieg angefangen hat. Dann gelten Sie als Trump-Fan und heißen selbstverständlich auch seine Corona-Politik gut.
Entweder Selenskyj-Verehrer oder Putin-Pudel. Entweder Corona-Leugner oder Impffanatiker. Entweder Umweltsau oder Klimakleber. Sie haben die Wahl. Aus der Parteinahmesucht folgt Polarisierung.
Rotpunkte, Einhörner und Flaggenträger
Die meisten Menschen neigen dazu, nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst Parteien zuzuordnen, und zwar deutlich nach außen sichtbar. Sie uniformieren sich freiwillig, um Zugehörigkeit und damit eine damit verbundene Wertigkeit zu demonstrieren, indem sie die Kleidung oder Accessoires der Gruppe wählen, der sie sich zuordnen. Das Palästinensertuch zum Beispiel. Oder sie setzen sich die Maga-Kappe auf. Oder sie hissen eine Flagge. Wie groß das Bedürfnis ist, Flagge zu zeigen, sehen Sie nicht nur bei Demonstrationen, sondern beispielsweise sehr deutlich in Twitter.
Während Corona war das Erkennungszeichen derer, die die Corona-Maßnahmen und insbesondere den Impfdruck der Regierung unterstützten, die Spritze im Profilnamen und der rote Punkt als Symbol für harte Lockdowns. Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine ist es die Ukraine-Flagge. Seit dem 7. Oktober ist es die Palästinenser-Flagge. Oder die Israel-Flagge.
Und immer gilt für die meisten: Bist du nicht für uns, dann bist du gegen uns. Ich bin nun aber einer der wenigen, die weder für Schweden noch für Russland noch für die Ukraine noch für die USA noch für Israel noch für die Palästinenser oder sonst einen realen oder fiktionalen Staat sind. Ich zeige keine Flagge und ich bin keiner Partei zugehörig, weder einer politischen Partei noch einer sonstigen. Ich habe lediglich eigene Meinungen. Aber genau das ist fast jeden Tag Anlass für Versuche, mich irgendwie einer Partei zuzuschlagen. Nicht nur beim Tankwart.
Im freien Fall
Das ist auch so herrlich absurd. Wenn Sie öffentlich Positionen vertreten, die zufällig auch die AfD vertritt, wie ich das auch ab und zu tue, werden Sie von vielen als AfDler schubladisiert und dann darauf aufbauend als Rechter, Rassist, Nazi und so weiter beschimpft. Wenn ich aber libertäre Positionen vertrete, werde ich von Rechtskollektivisten als Liberaler verspottet und man wirft mir mangelnden Patriotismus vor, während mich Linke gleichzeitig als Egoist und Nazi titulieren. Äußere ich mich negativ über den Islam, werde ich als Rechter eingeordnet, äußere ich mich negativ über Israel, werde ich als Linker eingeordnet. Zumindest ist das derzeit so.
Das macht mir persönlich mittlerweile alles nichts mehr aus und sagt auch wenig über mich, aber es zeigt, wie flaggenbesessen und parteiergreifend die Leute ticken. Und wie schwierig es für viele ist, sich in der Welt zu orientieren. Und wie groß das Bedürfnis nach Identifikation ist, also zu wissen, wer man ist und wer die anderen sind.
Das alles ist für mich ein großes, übergreifendes Leitsymptom für das mangelnde Selbstbewusstsein und die große Führungsbedürftigkeit der meisten Menschen. Sie sind in der modernen, viel zu großen, sich viel zu schnell wandelnden Massengesellschaft einfach nur noch verwirrt und kennen sich nicht mehr aus.
Sie brauchen die Flaggen, Parteien und Schubladen, um sich an irgendwas festzuhalten, damit sie sich nicht im freien Fall befinden. Und natürlich bezahlen sie die selbstgewählte Parteizugehörigkeit mit einem Verlust an Freiheit. Denn wenn sie Ihre Partei erst mal gewählt haben, dann erwarten Sie von sich selbst – und auch andere erwarten das von Ihnen: Treue und Loyalität.
Einmal Bayern-Fan, immer Bayern-Fan. Sie können dann nächste Saison nicht mit dem VfB mitfiebern. Das geht nicht. Diese Freiheit haben Sie zugunsten Ihrer Zugehörigkeit aufgegeben.
Wenn Sie als Staatstreuer während Corona die Ungeimpften beschimpft und diskriminiert haben, dann kommen Sie da nicht mehr raus. Sie haben mitgemacht und dabei bleibt es, egal, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse seitdem publiziert wurden, die beweisen, dass Sie falschlagen. Wäre die Parteinahme weniger bindend, dann müsste es derzeit massenweise Entschuldigungen und Reuebekenntnisse hageln. Aber das passiert nicht.
Und wenn sich welche der AfD zuordnen, dann twittern diese Leute bezeichnenderweise freiwillig: „Nur noch AfD“ – für immer und ewig.
Außerdem werden Sie, wenn Sie sich einer Partei zuordnen, nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich unfreier. Sie müssen dann nämlich auch all die anderen Punkte akzeptieren, die zu Ihrer Partei gehören. Und das kann Ihnen die Hände auf dem Rücken zusammenbinden. Als Grüner haben Sie nicht nur für Naturzerstörung durch Windräder zu sein, sondern auch gegen Kernkraft und für die Finanzierung aller möglichen NGOs mit Steuergeldern und für maximale Zuwanderung. Und wenn Sie eigene Meinungen frei entwickeln wie Sarrazin bei der SPD, Maaßen bei der CDU oder Palmer bei den Grünen, dann riskieren Sie, rausgeworfen zu werden.
Flaggenlos frei
Dabei sind Parteien wirklich überflüssig. Politische Parteien im engeren Sinne sollten im nächsten Gesellschaftsversuch dringend zu Vereinen bar aller Privilegien degradiert werden. Aber auch Parteinahme jenseits der Politik macht nur Probleme. Den wahren Halt finden Sie nicht in der Zugehörigkeit zu einem Staat, einer Flagge, einer Partei oder einem Fußballverein. Sondern nur in Ihrer eigenen individuellen Persönlichkeit. Und in Ihrer Geschichte, Ihren Prinzipien und Grundsätzen, Ihrer Familie, Ihrer Heimat und Ihrer Kultur. Das sind natürliche Bindungen, die Sie frei machen, während Bindungen zu Parteien aller Art Sie unfrei machen.
Wenn Sie frei sind, dann können Sie sich heute mal mit denen einen und morgen mal mit den anderen Leuten assoziieren, je nachdem, was Sie gerade besser finden und was Ihren Interessen und Ihren Werten gerade am besten entspricht. Sie müssen kein Patriot sein, um gerade für bestimmte deutsche Interessen einzutreten. Sie müssen kein Judenhasser werden, wenn Sie die Politik von Netanjahu gerade nicht gut finden. Und Sie müssen kein Putinfreund sein, wenn sie die ukrainische Regierung für korrupt halten, oder ein Wagenknecht, wenn Sie für Friedensverhandlungen sind.
Es gibt überhaupt keinen Grund, sich in der Familie, unter Freunden oder im Unternehmen über die Migrationskrise, über die Corona-Maßnahmenkrise, über den Ukraine-Krieg oder den Palästina-Konflikt in die Haare zu kriegen und sich von Kriegspropaganda spalten zu lassen. Das ist völlig unnötig. Und das passiert nur durch diese elende Parteizuordnung, denn Sie können nach der Parteilogik nicht gleichzeitig Angehöriger zweier verfeindeter Parteien sein.
Max Stirner schrieb: „Was schiert mich die Partei? Ich werde doch genug finden, die sich mit mir vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu schwören.“
Kommentare
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