16. November 2023 07:00

Die totale Kontrolle „Wer nichts zu verbergen hat, muss den Überwachungsstaat nicht fürchten“

Droht uns das Ende jeglicher Privatsphäre?

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Trismegist san / Shutterstock Gesichtserkennungstechnologie zur Überwachung des öffentlichen Raums: Wird nicht nur in China eingesetzt

Menschlichkeit definiert sich durch eine private Sphäre, die eben nicht öffentlich ist: Aus diesem Grund werden Vorhänge an Fenster gehängt und Kleider auf der Straße getragen. Das muss nicht heißen, dass man etwas Verwerfliches zu verbergen hat und Handlungen im Verborgenen ausübt, die anderen Menschen oder deren Eigentum schaden – also im wahrsten Sinne des Wortes kriminell sind. Vielmehr geht es darum, dass es einen schützenswerten Intimbereich im Leben eines jeden Menschen gibt, der in einer offenen Gesellschaft ein Gleichgewicht zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gewährleistet. Darum gilt der Schutz der Privatsphäre als eines der elementaren Menschenrechte. Diese Privatsphäre umfasst nicht zuletzt die Abwesenheit von staatlicher Schnüffelei in der privaten Umgebung sowie der unfreiwilligen Speicherung, Verwendung und Verwertung privater Daten.

Spätestens seit den Enthüllungen durch Edward Snowden ist weitum bekannt, dass die Staaten dieser Welt dieses Menschenrecht auf Privatsphäre systematisch mit Füßen treten. Der moderne Überwachungsstaat kann – nicht nur im Verdachtsfall – auf alle möglichen Kameras und Mikrophone auf Mobiltelefonen, Tablets, Fernsehgeräten oder Laptops zugreifen. Er kann sich mit Trojanern Zugang zu beliebigen Daten, Bildern und Videos verschaffen. Er verletzt damit die Privatsphäre von Milliarden unbescholtener Bürger, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, unsere Gesellschaft bewege sich tendenziell in die Richtung der von George Orwell in seinem Roman „1984“ gezeichneten Dystopie des totalen Überwachungsstaates.

Gut möglich, dass wir noch lange nicht das Ende dieser Entwicklung erlebt haben. Wohin die Reise in Zukunft gehen könnte, zeigt ein Blick nach China. Das Land ist sowas wie der Vorreiter der modernen Überwachungsdiktatur. Mit einem Punktesystem sollen die Bürger zu systemtreuen Untertanen erzogen werden. Kameras mit Gesichtserkennungssoftware registrieren, wer bei Rot über die Ampel läuft: Das gibt einen Punkteabzug. Wer in den sozialen Medien die kommunistische Einheitspartei kritisiert, erhält ebenfalls Minuspunkte. Sinkt das eigene Rating, hat das für die Individuen verschiedenste unbequeme Konsequenzen: So gibt es für Leute mit zweifelhaftem Rating beispielsweise keine Flug- oder Hochgeschwindigkeitszugtickets mehr, der Zugang zu gewissen Hotels wird ihnen verweigert oder es wird für sie unmöglich, die eigenen Kinder auf bestimmte Schulen zu schicken.

Die chinesische Regierung argumentiert damit, dass dadurch lediglich die Sicherheit gesteigert werden soll. In der Tat könnte man nun behaupten, dass jene Bürger, die sich nichts zuschulden kommen lassen, selbst von einem solch totalen Überwachungsstaat vom Kaliber wie jenem in China nichts zu befürchten hätten. Ganz nach dem Motto: „Liebe Bürger, gebt uns einfach nur die absolute Macht und wir werden im Gegenzug Sicherheit schaffen.“ Was kann da schon schiefgehen, nicht wahr?

Wer einer Regierung derartige Versprechungen abkauft, strotzt vor grenzenloser Naivität. Es ist ein unreflektierter Glaube, der Staat wolle nur das Beste für seine Bürger und diese lediglich vor Unruhestiftern und Kriminellen schützen. Es ist klar, dass viele politische Machthaber gerade in Diktaturen nicht primär die Sicherheit ihrer Bürger im Sinne haben, sondern zuallererst ihre eigene. Indem sie ihre eigene Macht durch eine immer engmaschigere Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung ausweiten, um damit potenzielle Dissidenten vorzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, dient die politische Klasse vor allem sich selbst zu. Es geht um Machterhalt und Machtausweitung. Und auch wenn der Westen weit vom chinesischen Autoritarismus entfernt ist, so besteht trotzdem die Gefahr eines politischen Machtmissbrauchs. Mehr Überwachungsmöglichkeiten bedeuten auch eine Zunahme der Versuchung für die an den Schalthebeln der Macht sitzenden Kräfte, Andersdenkende vorzeitig ausfindig zu machen und zu neutralisieren – etwa indem man Äußerungen in den sozialen Medien systematisch überwacht und unliebsame Aussagen als „Hate Speech“ brandmarkt und unter Strafe stellt. Dieselben Kräfte könnten der Versuchung erliegen, ihre politischen Konkurrenten unschädlich zu machen, indem sie diese Schritt für Schritt überwachen und jeden kleinsten Fehler dazu ausnützen, um sie in der Öffentlichkeit zu diskreditieren oder zu erpressen. Es dürfte daher klar sein, dass ein ausgebauter Überwachungsstaat vor allem für die herrschende Politik von Nutzen ist.

Die neue ausgedehnte Rolle des „Big Brother“ führt jedoch nicht nur zu machtpolitisch problematischen Konstellationen, sondern ganz generell zu einer Anpassung des menschlichen Verhaltens. Menschen, die sich vom Staat beobachtet fühlen, verhalten sich anders. Es findet also eine verhaltensmäßige und meinungsmäßige Anpassung an den „Mainstream“ statt, sodass Positionen mit Ecken und Kanten langsam, aber sicher verschwinden. Die wohlstandsstiftende Kreativität und Innovation weichen in der Folge einem sklavenhaften Konformismus, der höhere Lebensstandards für alle gar nicht mehr erst entstehen lassen kann. Damit schadet der Überwachungsstaat nicht nur jenen, die „etwas zu verbergen“ haben, sondern allen.

Die Bürger westlicher Industrieländer zeigen gerne mit dem Finger auf China und das totalitäre Überwachungssystem, das sich dort im Auf- und Ausbau befindet. Doch ihre Regierungen sind längst dabei, ähnliche Technologien zu importieren, zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen. Die Corona-Tracing-App ist nur das jüngste Beispiel. Selbst die verhältnismäßig freie Schweiz ist in den letzten Jahren den Weg eines Ausbaus des Überwachungsstaates gegangen. Sämtliche Menschen in der Schweiz können überwacht werden – auch ohne Anlass und Verdacht. Erst kürzlich wurden die Kompetenzen und Rechte der Überwachungsstaats-Beamten mit dem revidierten Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) und dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG) nochmals ausgedehnt. Eine wirksame Kontrolle der entsprechenden Behörden oder effektive Rechtsmittel für Betroffene existieren nicht. Die Macht des Zentralstaates bei der Kriminalitätsbekämpfung wurde hier unverhältnismäßig zuungunsten der Privatsphäre der Bürger ausgeweitet.

Die Öffentlichkeit fokussiert sich bei dieser Debatte viel zu stark auf private digitale Plattformen wie Facebook oder Google, die als wahre Bösewichte im ganzen Überwachungszirkus ausgemacht wurden. Natürlich: Diese Institutionen werden von Regierungen dazu angehalten, ihre Daten mit ihnen zu teilen. Jedoch steht es jedem Bürger frei, welche Daten er Google oder Facebook zur Verfügung stellen möchte und welche Dinge er auf den sozialen Medien teilt. Das ist seine eigene Entscheidung – ganz im Gegensatz zur staatlichen Schnüffelei, der man sich als Bürger nicht entziehen kann.

Diesen Trend in Richtung immer mehr staatlicher Überwachung gilt es zu stoppen. Denn mehr staatliche Kontrolle und Überwachung führen nicht zu mehr Sicherheit und schon gar nicht zu mehr Freiheit. Im Gegenteil: Der Historiker Lord Acton (1834–1902) brachte den blinden Fleck in der Diskussion treffend auf den Punkt: „Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.“


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