Geschichte des Anarchismus – Teil 2: Proudhon gegen Marx
Die Geburt des Anarchismus
von Stefan Blankertz
1848. Europa im Aufruhr. Bürgerliche Revolution. Diese Revolution „liberal“ zu nennen, bedeutet, den Liberalismus mit Nationalismus, Zentralismus und Wirtschafts-Interventionismus zu identifizieren. Gefordert wird die nationale Einigung in den Ländern, die wie Deutschland oder Italien noch in viele Staaten geteilt sind, die Stärkung der Zentralisation in den Ländern, die wie Frankreich schon lange eine ungeteilte Nation bilden, die Verstaatlichung des Banken- und Kreditwesens, die Durchsetzung der staatlichen Schulpflicht, die Organisation von staatlicher Arbeit für die Arbeitslosen, Eingriffe in die Landwirtschaft. Klingelt etwas? Richtig: die berühmt-berüchtigten zehn Forderungen am Ende des „Kommunistischen Manifests“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Sie sind kaum marxistisch und schon gar nicht kommunistisch zu nennen, sondern eine Aufnahme der damals gängigen Forderungen. Die deutschen Sozialisten (oder Kommunisten?) Marx und Engels schwimmen im Mainstream mit.
Anders Pierre-Joseph Proudhon (1809–1864) in Frankreich. 1840 war er der Erste, der sich als Anarchist bezeichnet hatte. Nun, 1848, nahm er Stellung zugunsten der Revolution in dem Sinne, dass die Bürger ihre eigenen Geschicke in die Hand nehmen. Dagegen lehnte er die Forderungen nach staatlicher Zentralisation, staatlicher Arbeits-, Bank- und Landwirtschaftsorganisation und staatlicher Bildung ab, da sie konterrevolutionär seien. Er erklärte, dass Demokratie nicht das Abhalten von zentralstaatlichen Wahlen sei, sondern die Selbstbestimmung von Regionen und freiwilligen Gemeinschaften, die sich gegebenenfalls föderieren, aber auf der Grundlage strikter Freiwilligkeit. Wie recht er mit seiner Ablehnung von nationalen Wahlen hatte, zeigte sich vier Jahre später, als sich der gewählte Präsident Louis Bonaparte zum Kaiser Napoleon III. aufschwang.
Proudhon war nicht irgendwer, sondern deutlich einflussreicher als Marx und Engels – jedenfalls in Frankreich. Dies gestand indirekt selbst Marx zu. Anlässlich des Ausbruchs des Preußisch-Französischen Kriegs 1870, der in die Gründung eines deutschen Kaiserreichs mündete, schrieb Marx an Engels: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons.“
Das hätte Marx nicht geschrieben, wäre Proudhon in der revolutionären Bewegung Frankreichs eine Randfigur gewesen. Im Jahr 1870 war Proudhon seit fünf Jahren tot. Der Proudhonismus in Frankreich ist ein bemerkenswertes Phänomen. Denn Proudhon – Ochsenhirt, Schriftsetzer, zeitweilig mit Unterstützung eines reichen Freundes Privatgelehrter, dann kleiner Angestellter – entsprach so gar nicht dem, was man sich unter einem revolutionären Führer vorstellt. Er war kein begnadeter Redner, kein geschickter Verschwörer und auch kein großer Organisator. Weil sein wesentlicher philosophischer Bezugspunkt Hegel ist, durchzieht seine Schriften eine bisweilen ziemlich anstrengende Dialektik. Aber mit einer Idee vermochte er es, die revolutionäre Bewegung zu beflügeln, und zwar jener: Die Menschen sind in der Lage, ihr Leben ohne Herrschaft zu meistern, ja, besser zu meistern als mit Herrschaft!
Am Ende des Preußisch-Französischen Kriegs stand dann tatsächlich die Niederlage Frankreichs. Inmitten dieser Niederlage kam es in Paris aber zu einem Aufstand mit der Gründung der „Pariser Kommune“. Sie währte nur wenige Tage, bis der französische Reststaat sie unter der wohlgefälligen Aufsicht der preußischen Sieger niederschlug; aber in ganz Europa heizte sie die revolutionäre Bewegung an. Die Idee, welche die Pariser Kommune antrieb, war genau das proudhonistische Programm des Föderalismus: die Selbstverwaltung vor Ort. Marx kam nun nicht umhin, sie ebenfalls in einer Schrift zu würdigen (und zu behaupten, sie entspräche genau seinen Vorstellungen). Lenin kostete es später Mühe, den dezentralen Kommunalismus, den Marx hier pries, wegzuinterpretieren, um seinem demokratischen Zentralismus unbeschadet das Label marxistisch anheften zu können.
Wenn heute noch etwas von Proudhon bekannt ist, dann sein Slogan „Eigentum ist Diebstahl“. Bürgerliche Gegner des Anarchismus leiten daraus genauso wie heutige vermeintliche Anhänger ab, Proudhon habe sich damit gegen das Eigentum ausgesprochen. Aber Proudhon war Hegelianer und liebte es, sich dialektisch auszudrücken. Der Begriff Diebstahl setzt logisch Eigentum voraus; wenn es kein Eigentum gibt, kann auch nichts als gestohlen bezeichnet werden. Was Proudhon mit dem Slogan ausdrücken wollte, ist, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was der Staat rechtspositivistisch zu Eigentum erklärt, und dem naturrechtlichen Eigentum. Das (naturrechtliche) Eigentum nannte Proudhon die stärkste revolutionäre Kraft der Geschichte und die Kraft, mit der es möglich sein würde, den Staat und seine Repression zu überwinden. Proudhon forderte dazu auf, analytisch zu unterscheiden zwischen unrechtmäßigem staatlich definierten und naturrechtlichem Eigentum. Damit lässt sich analytisch auch der Reichtum in einen solchen einteilen, der aufgrund staatlicher Zwangsmaßnahmen zustande kommt, und einen solchen, der der freiwilligen Interaktion entspringt. Die erste Form des Eigentums ist Diebstahl, die zweite Form ist zum Vorteil aller; ihn zu enteignen und umzuverteilen, senkt den Wohlstand von jedem, auch und gerade der Armen. Heute werde ich erstaunt angeschaut, wenn ich erwähne, dass der deutsche Anarchist Gustav Landauer, der sich speziell auf Proudhon bezog, in seinem „Aufruf zum Sozialismus“ 1911 schrieb, der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft müsse immer weiter zurückgedrängt werden.
In einer weiteren Hinsicht setzte Proudhon das Paradigma des Anarchismus. Er gründete eine Bank, die auf einer von ihm erdachten genossenschaftlichen Grundlage basierte. Ausdrücklich forderte er den Staat nicht dazu auf, die Geldpolitik zu ändern, sondern nur, dass ihm die Freiheit eingeräumt werde, die eigenen Ideen in die Tat umzusetzen. Allerdings wurde Proudhon kurz darauf wegen Beleidigung des Präsidenten (der dann Kaiser wurde) angeklagt und inhaftiert, sodass er das Experiment abbrechen musste; es war noch nicht so weit gediehen, dass es ohne ihn hätte weitergeführt werden können.
Was die erhoffte revolutionäre Veränderung, die Reduzierung oder Beseitigung des Staats angeht, schloss Proudhon Gewalt nicht aus. Den, der hier die Nase rümpft und meint, man sehe daran, dass die Anarchisten für eine gewalttätige Veränderung der Gesellschaft seien, erinnere ich daran, dass die bürgerliche oder liberale Revolution ebenfalls gewalttätig war, angefangen von der Amerikanischen Revolution über die Große Französische Revolution bis hin zu den erwähnten Revolutionen von 1848. Die Einigungsbewegung in Italien Mitte des 19. Jahrhunderts setzte auf Gewalt. Proudhon und später Michail Bakunin kritisierten den Gewalteinsatz bei der nationalen Einigung Italiens. Was Proudhon überdies kategorisch ablehnte, war jeder Rückgriff auf Akte individuellen Terrors. Attentate verübten im 19. Jahrhundert vor allem bürgerliche und nationalistische Täter. Als Hegelianer war Proudhon davon überzeugt, dass Revolutionen gesellschaftliche Prozesse seien, die nicht willkürlich herbeigebombt werden können.
Und so sieht Proudhons Paradigma für den Anarchismus aus:
Erstens: Der Staat ist nicht nur der Feind der Freiheit, vielmehr auch der Wirtschaft.
Zweitens: Die Alternative ist kein anders organisierter Staat, sondern freiwilliges (agoristisches) Handeln. Die Organisationsform der Freiheit ist Föderalismus (mit Sezessionsrecht).
Drittens: In einer revolutionären Situation ist Gewalt zwar legitim, nicht aber als terroristische Strategie von Attentaten.
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