Geschichte des Anarchismus – Teil 3: Josiah Warren, der friedliche Revolutionär
Die Ursprünge des Anarchismus in den USA
von Stefan Blankertz
Die Industrielle Revolution und ihre sozialen Begleiterscheinungen inspirierten im 19. Jahrhundert eine breite Palette von utopischen Entwürfen einer besseren Gesellschaft. Sie alle kennzeichnete ein mehr oder weniger ausgeprägter herrschaftlicher Charakter. Es ging meist um die Kombination aus der Rationalität von standardisierter Massenproduktion mit dirigistischer Wirtschaft und einer militärischen Organisation des Alltags bis hin zur Versorgung durch Großküchen. Max Nettlau, der Herodot des Anarchismus, sprach in seiner „Geschichte der Anarchie“ von autoritären Utopisten, die sich wie kleine Napoleons vorstellten, über Menschen verfügen zu dürfen und zu können. Darin habe sich, so Nettlau 1925, bereits die kommende Herrschaft der Führer sozialistischer Parteien angekündigt.
Besonders die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrem Überfluss an Land und ihrer relativ freien politischen Verfassung luden dazu ein, solche utopischen Entwürfe versuchsweise in die Praxis umzusetzen. Es kam zu einer Vielzahl von Gründungen sozialistischer Siedlungen. Sie gingen trotz einiger Unterschiedlichkeit in Details alle von Gemeineigentum sowie von autoritärer Führung oder von engmaschiger gegenseitiger Überwachung ohne Privatsphäre aus. Und sie alle scheiterten, die meisten sehr schnell. Entweder lösten sie sich auf oder sie verwandelten sich in ganz normale Siedlungen.
Einer derjenigen, der in diesen Siedlungsversuchen engagiert war und ihr Scheitern miterlebte, war Josiah Warren (1798–1874). Warren zog aus dem Scheitern die Lehre, dass jede Alternative zur gegenwärtigen Misere Privateigentum und Privatsphäre als wichtigste Elemente enthalten müsse. In diesem Sinne unternahm er weitere Siedlungsgründungen, die jeweils erfolgreicher waren als die sozialistischen Siedlungen, freilich nicht so erfolgreich, dass sie die übrigen Teile der Gesellschaft dazu animierten, ihrem Vorbild zu folgen.
Obgleich Warren selber sich nie als Anarchist bezeichnete (als er 1830 mit seinen eigenen Gründungen begann, gab es den Begriff noch gar nicht, den Proudhon erst 1840 in die Welt setzte), gilt er als Begründer des (amerikanischen) individualistischen Anarchismus. Die Kennzeichnung als individualistisch ist insofern bemerkenswert, als Warren ganz ähnliche genossenschaftliche Konzepte im Sinne hatte wie Proudhon. Wenn Warren Individualist war, so war es auch Proudhon und ist es mithin der Anarchismus überhaupt. Die Anhänger von Warren und diejenigen, die seine Ideen weiterführten, übernahmen dann den Begriff Anarchismus und entdeckten ihre Seelenverwandtschaft mit Proudhon.
Warren war anders als Proudhon kein großer Theoretiker, weder in gesellschaftlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht. Er war Praktiker und Unternehmer. Wie Proudhon auch, dachte er daran, der herrschenden staatlichen Währung ein alternatives Tauschmittel entgegenzusetzen, das auf Arbeitszeit basierte. Arbeitszeit ist nun kein homogenes Gut – in der gleichen Zeiteinheit schafft der eine mehr, der andere weniger Werte – und sie lässt sich abseits der in ihr geschaffenen Werte auch nicht vergegenständlichen. Ein Gramm Gold verkörpert den Wert selber, eine Bescheinigung über geleistete Arbeitszeit ist nur deren Anzeichen. Das lässt sich indirekt auch daran ablesen, dass bei Warren auf Arbeitszeit-Bescheinigungen stets auch die Umrechnung in einen physisch vorhandenen Wert, meist die Umrechnung in eine Gewichtseinheit von Weizen, verzeichnet wurde.
Ob in einer freien Wirtschaft die Arbeitszeit-Bescheinigungen zirkulieren würden oder ob die Proudhon’sche Bank sich durchsetzen würde (sie war ökonomisch raffinierter aufgebaut als Warrens Bescheinigungen: eine Art genossenschaftlicher Kreditorganisation), ist für die Frage der Richtigkeit der anarchistischen Idee völlig unerheblich. Denn beide, Proudhon wie Warren, sahen ihre Ideen nur als Angebote an, die nur diejenigen nutzen würden, die dies auch wollen. Freiwilligkeit als Voraussetzung der Umsetzung sollte das Grundprinzip sein, kein staatlicher Zwang. Andere sollten die gleiche Freiheit besitzen, ihre Ideen auszuprobieren.
Eins aber ist aus der Sicht der heutigen Erfahrung mit staatlicher Papier- und Buchwährung besonders hervorzuheben: Was auch immer die Nachteile und Schwachstellen der Arbeitszeit-Bescheinigungen als Tauschmittel sind, die Arbeitszeit stellt im Gegensatz zur ungedeckten staatlichen Währung ein hartes Kriterium der Begrenzung dar. Die Arbeitszeit lässt sich nicht nur begrenzt ausweiten; wenn sie ausgeweitet wird, wird in ihr auch etwas produziert. Das heißt, dass mit den Arbeitszeit-Bescheinigungen keinerlei Inflation zu machen ist. Wenn wir hinnehmen, dass Warren auf seinen Bescheinigungen auch den Gegenwert in einer physisch vorhandenen Ware vermerkte, tut sich eine weitere interessante Parallele auf: Friedrich August von Hayek, der Vertreter einer radikal marktwirtschaftlichen Ökonomik, schlägt in seinem Buch „Denationalisierung des Geldes“ 1976 vor, dass Banken staatsunabhängig und in Konkurrenz zueinander Geld emittieren, das auf Warenkörben basiert. Im Detail gibt es gravierende Unterschiede, immerhin liegen zwischen Warrens und Proudhons Vorschlägen einerseits und Hayeks Vorschlag andererseits gut 100 Jahre; doch ist die Parallelität verblüffend. Sie illustriert meine Grundthese, dass Anarchismus und klassischer Liberalismus eine große inhaltliche Affinität zueinander aufweisen.
Freiwilligkeit war nicht nur die Zielrichtung von Warrens Anstrengungen, soziale Veränderungen herbeizuführen, sondern auch das von ihm eingesetzte Mittel. Eine Zeit lang gab er die Zeitschrift „The Peaceful Revolutionary“ heraus, „Der friedliche Revolutionär“. Gewaltanwendung lehnte er anders als Proudhon sogar in einer revolutionären Situation ab. Dies lässt sich wenigstens teilweise auf die unterschiedliche Lage in den Vereinigten Staaten von Amerika und im alten Europa zurückführen. Amerika bot eine größere Palette an politischen und sozialen Freiheiten, an Möglichkeiten, soziale und ökonomische Experimente durchzuführen, obwohl diese Freiheiten ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr eingeschränkt wurden. Außerdem konnten die Anarchisten in den USA sich auf eine radikalliberale Tradition berufen, die gesellschaftliche Anerkennung genoss, wenngleich sie in ihrer politischen Bedeutung zunehmend marginalisiert wurde. Europa kämpfte ganz anders mit den Relikten des Feudalismus, mit der Repression der Fürstenherrschaft, mit den Ausläufern religiöser Obrigkeit und mit dem Aufkommen staatssozialistischer Ideen.
Wenn wir Proudhon und Warren als die zwei Gründungsväter des Anarchismus, der eine desjenigen in Europa, der andere desjenigen in den USA, zusammennehmen, wird unmittelbar klar, dass das, was sie unter Anarchismus verstanden, weit entfernt ist vom heutigen Schwarzen Block und von A-im-Kreis-Schmierereien, ganz weit entfernt von Terrorismus und ganz weit entfernt von „Tax and Eat the Rich“, ganz weit entfernt von der Verteufelung des Eigentums und des Marktes. In den kommenden Kolumnen werde ich aufzeigen, dass dies in der nachfolgenden Entwicklung des Anarchismus so geblieben ist (mit wenigen bedauerlichen Ausnahmen).
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