Auswärtsspiel in Berlin: Ein gefundenes Fressen für die Politik
Deplatzierte Integrationsdebatte
Man habe den türkischen Fans zeigen wollen, „dass sie für die falsche Flagge singen und pfeifen“, kommentierte Nationalspieler Thomas Müller die Fan-Reaktionen auf das Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und der Türkei am vergangenen Samstag in Berlin. Es habe die Mannschaft „gewurmt“, so der Bayern-Stürmer, dass die türkischen Fans in der Überzahl waren und das Match so für die Deutschen zu einem Auswärtsspiel machten. Die Frustration Müllers und der deutschen Spieler kann ich gut nachvollziehen. Und mit dem Statement von Bundestrainer Julian Nagelsmann hätte man es eigentlich gut sein lassen können: „Es waren viele türkische Fans im Stadion, aber das ist auch schön und macht Fußballern Spaß. Das wir ausgepfiffen wurden natürlich nicht, aber ich finde es nie gut, wenn jemand ausgepfiffen wird.“
Doch nicht nur auf Krawall gebürstete Social-Media-Nutzer, sondern auch Medienvertreter und Politiker hatten zu den Fan-Verhältnissen von Berlin noch Gesprächsbedarf. Sogar FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sah die Notwendigkeit, Ereignisse rund um das Freundschaftsspiel der DFB-Auswahl zu kommentieren. „Es muss uns alle schmerzen, wenn in Deutschland geborene oder aufgewachsene Menschen bei einem Länderspiel in Deutschland die deutsche Nationalmannschaft auspfeifen“, sagte Djir-Sarai der „Bild“-Zeitung. Wer bitte ist „uns alle“? Also mich schmerzt es nicht die Bohne, wenn Fans bei einem Fußballspiel im Stadion pfeifen. Es schmerzt, wenn eine langjährige Freundschaft zerbricht oder ein Angehöriger schwer erkrankt, aber doch nicht, wenn die deutsche Nationalmannschaft ausgepfiffen wird.
Für Djir-Sarai hat der Fußballabend von Berlin „erneut die Versäumnisse und Defizite in der Integrationspolitik“ aufgezeigt. Wow! Wer die deutsche Nationalmannschaft nicht unterstützt oder es gar wagt, die gegnerische Mannschaft anzufeuern, ist also nach Meinung der FDP schlecht integriert? Nationenfußball schaue ich mir schon lange keinen mehr an. Doch früher, als Kind und Jugendlicher, habe ich mir kein Länderspiel entgehen lassen. Mit meiner Integration schien es schon damals nicht weit her zu sein. Denn selbstverständlich habe ich bei Länderspielen immer dem Underdog die Daumen gedrückt. Und der Underdog war Deutschland in der Regel nie.
Natürlich ist das noch mal etwas anderes, als Spieler auszupfeifen. Vor allem die Pfiffe gegen Gündoğan waren unter aller Kanone. Dennoch können Fußballprofis mit sowas natürlich umgehen. Auch deutsche Vereinsmannschaften haben schon Heimspiele gegen türkische Mannschaften ausgetragen, in der die Gästefans dank zahlreicher Deutschtürken in der Mehrheit waren, und nie gab es danach eine Integrationsdebatte. Warum also jetzt? Hat es vielleicht auch etwas mit einer allgemeinen Stimmung gegen Muslime zu tun, die hierzulande von Politik und Medien seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel geschürt wird? Ich erinnere mich noch an 2015, als wäre es gestern gewesen, und bin doch recht baff, wie schnell und rabiat sich der Ton gegenüber Ausländern im Allgemeinen und Muslimen im Speziellen verändert hat. Fast könnte man meinen, nach den Ungeimpften und den Russen habe das Land einen neuen Sündenbock gefunden.
„Warum leben diese Menschen in Deutschland, wenn ihre Liebe weiterhin der Türkei und deren Präsident gilt?“, fragte der CDU-Innenexperte im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Gregor Golland. Wie kommt da jetzt plötzlich Erdoğan ins Spiel? Der war doch an diesem Abend in Berlin überhaupt kein Thema. Der Eindruck liegt nahe: Da wollen Politiker ihr Süppchen kochen und haben nur auf einen Anlass gewartet. Als ob das vergangenen Samstag alles nur Erdoğan-Fans gewesen wären. In Berlin zumal ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich ist die Bundeshauptstadt die deutsche Stadt, in der Erdoğan und seine AKP eine vergleichsweise niedrige Zustimmung erfahren.
„Sie sind freiwillig hier und dennoch nicht bereit, sich zu integrieren“, so Golland. Wieso integrieren? Viele der Deutschtürken, die am Samstag im Stadion waren, sind hier geboren, warum sollten die sich integrieren müssen? Golland weiter: „Wir müssen die sozialen Migrationsanreize endlich massiv kürzen und stattdessen mehr Bekenntnis zu unserem Land, seiner Leitkultur und seinen Werten einfordern!“ Volle Zustimmung zum ersten Teil des Satzes, auch wenn sich mir der Zusammenhang zum Türkei-Spiel nicht recht erschließen will. Dass es die CDU allerdings für geboten hält, das ganze Leitkultur-Geschwätz von vor 20 Jahren nun aufgehangen an einem Fußballspiel wieder hervorzuholen, sagt viel aus über die Verzweiflung einer Partei, die bei drei Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr von der AfD gerupft werden könnte.
Wer ernsthaft nach „Schuldigen“ für das Auswärtsspiel in Berlin sucht, muss nicht weiter schauen als zur DFB-Zentrale nach Frankfurt. Das Freundschaftsspiel gegen die Türkei hätte man schließlich statt in Berlin etwa auch im Rostocker Ostseestadion austragen können. Da wären die Mehrheitsverhältnisse andere gewesen und die Gäste-Fans wären dort bestimmt etwas weniger selbstbewusst aufgetreten. Allerdings hätte man dort nicht einmal die Hälfte der Tickets verkaufen können, die man bei einem Spiel im Berliner Olympiastadion losgeworden ist. Ich kann mich noch gut an ein Länderspiel erinnern, ich glaube es war 1998 und ein EM-Qualifikationsspiel zwischen der Türkei und Deutschland. Der legendäre Hakan Şükür, den Erdoğan später als Terroristen verfolgen ließ und der heute im Exil in den USA lebt, schoss damals das Siegtor für die Türkei. Der türkische Verband entschloss sich damals dagegen, in Istanbul zu spielen, und nahm die Einnahmeeinbußen gerne in Kauf mit dem Ziel, es deutschen Fans so umständlich wie möglich zu machen, zum Spielort zu gelangen. Mit Erfolg: Die paar deutschen Fans gingen damals im Hexenkessel des Atatürk-Stadions von Bursa komplett unter.
Den besten Kommentar zu den Ereignissen rund um das Länderspiel las ich auf „Focus Online“. „Wer nun aus dem vehementen Pfeifen gegen die deutschen Spieler, das man durchaus kritisch betrachten darf, aber gar ein politisches Statement der hier lebenden Deutschtürken konstruieren will, der hat noch nie ein türkisches Fußball-Spiel gesehen“, schreibt Dominik Rosing. „Das Spiel gegen Deutschland ist aber viel mehr als nur Pfeifen und Buhen. Es ist ein interkulturelles Fest, bei dem viele deutsche Fans gar nicht anders können, als einzusteigen und mitzumachen.“ Politik habe den ganzen Abend über keine Rolle gespielt. Keine Israel-, keine Palästinaflaggen seien im Stadion zu sehen gewesen, so Rosing, der der deutschen Empörung den Spiegel vorhält: „Wer sich nun immer noch über die Überzahl der türkischen Fans in Berlin aufregen will, sollte sich vielleicht einfach selbst fragen, wo er bei diesem denkwürdigen Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und der Türkei war.“
Während Covid waren manche türkischen Supermärkte oft die einzigen Einkaufsstätten, in denen man ohne Lappen im Gesicht einkaufen konnte. Deutschtürken pflegten überwiegend einen viel laxeren und flexibleren Umgang mit dem staatlichen Hygieneregime, was damals anlässlich der vermeintlich hohen Hospitalisierungsrate von Türken und Arabern völlig unverständlicherweise sogar alternative Medien skandalisierten. Den Vorwurf mancher Deutscher, sie zeigten zu wenig Loyalität gegenüber dem deutschen Staat, würde ich mir als Deutschtürke jedenfalls wie einen Orden an die Brust heften.
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