Freiheitsespresso XV: Freiheits(r)evolution
Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wer gibt den Anstoß?
von Michael von Prollius (Beendet)
von Michael von Prollius (Beendet) drucken
Viele Freiheitsfreunde wünschen sich andere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zustände. In meinem letzten Beitrag schrieb ich über Macht als ein unlösbares Problem. Im Anschluss daran haben mich zwei Beiträge nachdenken lassen, die über 100 Jahre auseinanderliegen.
Der erste stammt aus dem Jahr 1918. Rudolf Eucken (1846–1926), Philosoph, Literaturnobelpreisträger und bürgerlicher „Bestsellerautor“, schrieb in seiner gelehrten Betrachtung „Die Lebensanschauungen der großen Denker“, Erstauflage 1890, hier zwölfte Auflage 1918, über Platons Behandlung politischer Fragen: „Er zeigt sie in der Art, wie er in lebensvoller Schilderung die einzelnen Staatsverfassungen auf ihren seelischen Charakter zurückführt und dem Charakter der Gemeinschaft einen Typus der Individuen entsprechen lässt …“. Verkürzt hat demnach der Charakter der Gemeinschaft, das politisch-gesellschaftliche Gemeinwesen, dem individuellen Typus zu entsprechen. Das bedeutet für Freunde der Freiheit mindestens zweierlei. Erstens Unbehagen, weil der derzeitige Charakter der Gemeinschaft vielfach illiberal ist. Zweitens triste Aussichten, weil eine angestrebte freiheitlich verfasste Gemeinschaft nicht dem Mainstream-Typus entsprechen würde.
Der zweite Beitrag stammt von dem ungarischstämmigen Soziologen Frank Furedi (geboren 1947) und beschäftigt sich mit dem eigentümlichen Zustand der Eliten und ihrer historisch ungewöhnlichen aktuellen Verhaltensweise. In „Machtspiel: Wer herrscht heute wirklich?“, übersetzt für „Novo“, konstatiert Furedi, dass die Eliten heute wenig klar abgrenzbar seien, sie gleichsam ahistorisch nicht dominant und sichtbar von Macht Gebrauch machen würden, sie sich vor allem auf kulturelle Macht stützen und sich in einem gleichsam prekären Zustand befinden würden: „Die Zersplitterung der Eliten bedeutet, dass sie oft nicht in der Lage sind, effektiv zu handeln.“ Das bedeutet für Freunde der Freiheit, dass die alte Polarität von Knechtschaft und Freiheit unterkomplex und als Botschaft weniger zugkräftig ist. Zudem dürfte ein Freiheitswandel noch herausfordernder sein als das Erlangen politischer Führungsämter mit anschließender Rosskur wie noch bei der Eisernen Lady.
Es liegt nahe, ein bundesrepublikanisches Diktum umzuwidmen und so zugleich beide Autoren miteinander zu verbinden: Die Freiheit lebt von Voraussetzungen, die sie schwerlich selbst schaffen kann.
Wie kamen eigentlich Freiheitsevolutionen und -revolutionen zustande? Auf erfolgreichen Wandel schauen, heißt, Misserfolge außer Acht lassen. Einzelbetrachtungen ergeben noch kein Gesamtbild. Sei’s drum. 1989 war die Zeit reif. Die Ostdeutschen hatten massenhaft genug vom SED-Regime. Schabowskis Fehldeutung einer Weisung öffnete die Mauer. 1979 war die Zeit reif. Der britische Sozialismus hatte das Land vollkommen abgewirtschaftet. Margret Thatcher setzte sich mehrfach politisch kämpferisch durch, führte einen Krieg, vollzog mit ihrer Partei eine „konservative Revolution“ und „Rosskur“ (Dominik Geppert). 1948 war es Erhard mit neoliberaler Unterstützung und Adenauers Rückendeckung. Ludwig von Mises traf nach 1940 auf gleichgesonnene Exilanten an der Ostküste und engagierte Amerikaner, die zusammen eine begrenzte, zugleich beachtliche Minderheitenposition mit Fernwirkung aufbauten. Auch um 1848 befand sich Europa in vielen Regionen im Umbruch, die Macht verblieb indes bei den Eliten. Während die 68er-Bewegung 120 Jahre später eher eine langjährige soziale Bewegung war mit bürgerrechtlichen, (gegen-) kulturellen Forderungen, die in Osteuropa besonders politikökonomische Ziele verfolgte. Dem Arabischen Frühling ging wiederum ein langjähriges latentes Umbruchpotenzial voraus, das sich aus Bad Governance und sozioökonomisch prekären Entwicklungen speiste.
Die richtige Zeit und der richtige Ort sowie die richtige Person – das alles mag eine Rolle spielen. Offenkundig ist die Lage indes komplexer. So hat Ray Salvatore Jennings in seiner umfangreichen Studie demokratischer Durchbrüche für die Stanford University und den US-Kongress 2012 zahlreiche interne (10) und externe (7) Erfolgsfaktoren herausgearbeitet, gestützt auf 15 Fallstudien. Demokratische Durchbrüche als Abkehr von autoritären Systemen sind dabei lediglich ein erster Schritt in Richtung Demokratie. Stets waren inländische Voraussetzungen, vielfach soziopolitische, unabdingbar, und externe wirkten nur unterstützend.
Peter Boettke, Konstantin Zhukov und Matthew Mitchell zeigen in „The Road to Socialism and Back“ (2023) die wirtschaftsgeschichtlich bemerkenswerte sukzessive Liberalisierung Polens mit enormen Fortschritten für die Bevölkerung binnen zwei Jahrzehnten nach den Reformen der 90er Jahre: Wirtschaftswachstum, Lebenserwartung, Geldentwertung, Einkommen, Handel.
Was bleibt? Tatkraft Einzelner, Zusammenwirken vieler begünstigender Umstände ist eine trivial anmutende Formel. Immerhin lassen sich die so Zeichen der Zeit betrachten und anschließend (er)nüchter(nd) bewerten.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.