01. Dezember 2023 07:00

Geschichte des Anarchismus – Teil 4 Marx und Bakunin in eine Front? Niemals!

Bakunin sagte die Folgen des Marxismus exakt voraus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Nadar / Wikimedia Michail Bakunin (1814–1876): Russischer Revolutionär und Anarchist

Der russische Revolutionär und Widersacher von Karl Marx, Michail Bakunin (1814–1876), ist nach wie vor der bekannteste und der berüchtigtste Anarchist, das prägende Gesicht des Anarchismus. Im eilt der Ruf voraus, ein unbändiger Revolutionär gewesen zu sein, mehr noch als Marx steht er für den revolutionären Geist Europas. Ob der Anarchismus nach der Initialzündung durch Pierre-Joseph Proudhon als Bewegung ohne Bakunin eine Fortsetzung gefunden hätte, ist fraglich. Es war Bakunin, der den Anarchismus in dem Jahrzehnt 1866 bis 1876 zu einer europaweiten Bewegung formierte.

Vieles an dem heutigen Image von Bakunin ist, wie ich zeigen werde, falsch. Eins ist aber richtig: seine Feindschaft gegen Marx, und zwar sowohl von der inhaltlichen Zielrichtung als auch von der revolutionären Strategie her gesehen. Aber gerade diese Feindschaft gegen Marx ist seit den 1860er Jahren in den Hintergrund getreten. In der ersten Folge dieser Serie ging es darum, dass sich die linke Studentenbewegung sich auf Bakunin, um angesichts eines müde gewordenen Marxismus den revolutionären Impuls zu erneuern, jedoch am Marxismus als Theorie und als Definition des kommunistischen Ziels festhielt. Eine Sponti-Wandparole lautete: „Marx und Bakunin in eine Front!“ Bakunin wurde auf einen theorielosen Revolutionär reduziert, während Marx die Theorie liefern sollte.

Mit Proudhon hatte Marx sich theoretisch auseinandergesetzt. Als Verfechter des Privateigentums und Gegner des Kommunismus konnte Proudhon leicht zum „Kleinbürger“ abgestempelt werden, den man nicht ernst nehmen musste. Die Feindschaft zwischen Marx und Bakunin dagegen wurde zu einer rein persönlichen Konkurrenz um die Führung in der internationalen Arbeiterschaft heruntergespielt, was sie sicherlich nicht war.

Bakunin entstammte dem russischen Adel. In Deutschland studierte er Philosophie und wurde zum Hegelianer und Revolutionär, aber zunächst nicht zum Anarchisten. Das ist wichtig, denn aus dem Jahr 1844 stammt eine wohlwollende Besprechung Bakunins zu einem Traktat des Handwerkerkommunisten Wilhelm Weitling (von dem auch Marx und Engels ihren Kommunismusbegriff hatten). Aus ihr ist manchmal abgeleitet worden, Bakunin habe ein positives Verhältnis zur kommunistischen Idee gehabt. Möglicherweise zu jener Zeit. Nachdem er zum Anarchisten geworden war, bezog er ganz auf der Linie Proudhons gegen jede Spielart des Kommunismus Stellung. 1849 stand er mit Richard Wagner in Dresden auf den Barrikaden und war immer noch kein Anarchist. Nach der Niederschlagung des Dresdner Aufstandes wurde Bakunin verhaftet, angeklagt, eingekerkert, an Österreich ausgeliefert, dort ebenfalls eingekerkert, bis er schließlich der zaristischen Polizei übergeben wurde. Russische Kerker ruinierten seine Gesundheit. Als ein neuer Zar den Thron bestieg, nahm dieser Bakunin eigenhändig aus der Liste derjenigen Gefangenen, die begnadigt werden sollten. Erst Ende der 1850er Jahre gelang es Bakunins Familie, eine Umwandlung in die Verbannung nach Sibirien zu erreichen. Von Sibirien aus gelangte Bakunin 1861 zurück nach Europa.

Die ersten (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Aufzeichnungen, in denen Bakunin sich zum Anarchismus bekannte, stammen aus dem Jahr 1866, zwei Jahre nach dem Tod Proudhons. Diese Aufzeichnungen enthalten bereits das ganze anarchistische Programm Bakunins: Die Revolution muss allein auf die Erlangung der Freiheit gerichtet sein, sie darf niemandem Vorschriften darüber machen, wie er zu leben habe; sie würde den Reichen die staatliche Unterstützung nehmen, aber keine Umverteilung vornehmen. Den Marxisten Walter Benjamin veranlasste diese Skizze der freiheitlichen Stoßrichtung der Revolution Ende der 1920er Jahre, als das ganze Desaster der Russischen Revolution bereits deutlich geworden war, zu dem Statement, seit Bakunin habe es in Europa keinen radikalen Begriff der Freiheit mehr gegeben.

Indem er die Nachfolge Proudhons angetreten war, erregte Bakunin den Zorn von Marx. Bakunin hatte für kurze Zeit die Hoffnung gehabt, die Freundschaft mit Marx trotz der Unterschiedlichkeit der Positionen weiterführen zu können. Doch Marx und seine engsten Anhänger begannen, das Gerücht zu streuen, Bakunin sei ein zaristischer Spitzel. Angesichts des Schicksals von Bakunin war das mehr als unglaubwürdig. Bakunin empfand die Behauptung als ehrenrührig und schlug zurück. 1872 gelang es Marx mittels einer Intrige, Bakunin aus der Internationalen Arbeiterassoziation (später die Erste Internationale genannt) auszuschließen. Die große Mehrheit der Mitglieder waren jedoch Proudhonisten und Bakunisten, sodass die Internationale danach nur noch dahinsiechte, bis sie 1876, Bakunins Todesjahr, mit ihm zu Grabe getragen wurde, ohne dass irgendjemand es überhaupt noch bemerkte.

Schon Anfang der 1870er Jahre zeichnete es sich ab, dass der Marxismus in zwei Strömungen zerfallen wird, eine reformistische und eine revolutionäre. Die reformistische Strömung war die in Deutschland sozialdemokratisch und in anderen Ländern sozialistisch genannte Strategie, die Macht in dem bestehenden Staat mittels einer Partei zu erobern und den Staat dann im Sinne des Sozialismus umzugestalten. Die revolutionäre Strömung verfolgte die Strategie, den bestehenden Staat revolutionär zu zerstören und an seine Stelle einen vorübergehenden anderen Staat zu etablieren, die Diktatur des Proletariats. Wenn Bakunin sich gegen Staatssozialismus und Kommunismus aussprach, so meinte er mit Staatssozialismus die sozialdemokratische und mit Kommunismus die revolutionäre Variante des Marxismus. Mit geradezu prophetischen Worten beschrieb Bakunin, zu welchen Auswüchse der Staatsgewalt der Marxismus führen werde. Ganz besonders will ich nach den jüngsten Erfahrungen mit der Corona-Zeit hervorheben, dass Bakunin vorhersagte, die Kirche werde von der Wissenschaft als herrschende Lieferantin der Staatsreligion abgelöst werden.

Angesichts des Images von Bakunin mag es überraschen, welche Vorstellung über die Revolution er hatte. Revolutionäre Gewalt hielt er zwar für bedauerlicherweise unumgänglich (die Herrschenden würden ihre Macht nicht freiwillig abgeben), sie solle sich aber auf ein Minimum beschränken. Die Revolution müsse auf Befreiung ausgelegt sein und dürfe niemals in Bevormundung umschlagen (eine solche Bevormundung nannte Bakunin „Reaktion“). Allen, die nach 1917 meinten, Bakunin habe den Kommunismus schneller und brutaler als die Bolschewisten angestrebt, sind entweder ahnungslose oder böswillige Verdreher seiner Worte gewesen. Ganz im Gegenteil sagte Bakunin, die aus der revolutionären Befreiung vom Staat erwachsende Gesellschaft sei nicht perfekt und würde sicherlich in vielerlei Hinsicht hinter den Erwartungen zurückbleiben, jedoch von Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit gekennzeichnet. Dies stelle das Ziel der Revolution dar.

Obwohl er also revolutionäre Gewalt nicht ausschloss, wandte Bakunin sich mit scharfen Worten gegen alle Vorstellungen, die Revolution mittels einzelner, von einer revolutionären Situation losgelösten Aktionen herbeiführen oder mittels Attentate herbeibomben zu können. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses 1872 schrieb Bakunin nach dem Tod des italienischen bürgerlichen Revolutionärs Guiseppe Mazzini einen Brief an einen seiner Gefolgsleute in Italien, in dem er ihn eindringlich davor warnte, sich zu pseudorevolutionären Aktionen hinreißen zu lassen. Diesen Brief habe ich erstmals in Deutsche übersetzt und ediert. In ihm finden (klassische) Liberale mehr Anknüpfungspunkte als militante Kommunisten.

Solche Briefe Bakunins waren neben seiner persönlichen Präsenz sein Hauptmedium der Wirksamkeit. Nur wenige Schriften von ihm wurden zu Lebzeiten publiziert, die meist den Vermerk trugen, dass eine Fortsetzung folgen werde (was aber nicht geschah). Es gab ein Buch, dessen erster Teil 1873 erschien (einen zweiten sollte es nie geben), das eine ungeheure Wirkung entfaltete, obwohl es zu Lebzeiten nur in russischer Sprache vorlag. Es war so wichtig, dass Marx anhand dessen Russisch lernte! Der Titel: „Staatlichkeit und Anarchie“. In ihm forderte Bakunin die russischen Revolutionäre an seinen Freiheitsbegriff anschließend dazu auf – statt in abgehobenen Zirkeln über die bestmögliche Einrichtung eines zukünftigen revolutionären Staats nachzudenken –, „ins Volk zu gehen“ und es in seinen Anliegen ernst zu nehmen, ohne ihm Vorschriften machen zu wollen. Ins Volk gehen. Eine Bewegung ward geboren, die Narodniki, und dies, obwohl nur eine Handvoll Exemplare nach Russland geschmuggelt werden konnten.


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