Kulturgeschichte: Denkraumerweiterung zur Krisenbewältigung
Historische Rückblicke auf eine Synode von 1571
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Hat man sich verlaufen, geht man sinnvollerweise so weit zurück, bis man eine Stelle wiedererkennt und von dort aus den Weg neu findet. In einem Urwald, wurde mir erklärt, müsse man es allerdings anders machen. Statt den ohnehin aussichtslosen Versuch zu unternehmen, dort irgendetwas wiederzuerkennen, solle man möglichst sichtbar auf einen hohen Baum klettern und beten, dass man – einmal vermisst – mit dem Hubschrauber gesucht und dort dann erspäht werde.
Zeiten, in denen Orientierung gebende gesellschaftliche Strukturen um einen herum zusammenbrechen, ähneln der Lage eines Spaziergängers in unbekanntem Umfeld. Man kennt sich nicht mehr aus und überlegt, wie es sich nun richtigerweise zu bewegen gelte. Gegen Lügengeschichten von Menschen, die einen hinter die sprichwörtliche Fichte zu führen versuchen, hilft Wahrhaftigkeit im Umgang mit Vertrauten. Und gegen Manipulationsanfälligkeit hilft die innere Einstellung möglichster Unabhängigkeit im Urteil. Daneben gibt es allerdings noch ein anderes Hilfsmittel zum Finden eines Pfades im Unbekannten: den forschenden Blick zurück in die menschliche Geschichte. Denn das Lesen in alten Quellen erweitert den eigenen Horizont, welchen Schwierigkeiten sich unsere Vorfahren ausgesetzt sahen, welche Fehler sie seinerzeit machten und was ihnen einfiel, um der Lage wieder Herr zu werden. Immer wieder findet man auf diese Weise Anregungen, welche Versuche sich aktuell machen lassen können, um nicht hilf- und bewegungslos von einem Strom der Boshaftigkeit oder auch nur der Gedankenlosigkeit in den Abgrund gerissen zu werden.
Ein anschauliches Beispiel für diese Methode der Denkraumerweiterung bietet die Emder Synode aus dem Jahr 1571. Durch die Reformation inmitten Europas war mannigfaltige Bewegung in die Landkarte gekommen: Die neue Spaltung der Menschen in Katholiken und Protestanten überforderte die gewohnten Toleranzbereiche. Heute würde man vielleicht sagen: Die Reformierten waren Schwurbler, die der verschwörungstheoretischen These anhingen, es gebe mehr als nur die eine Wahrheit, die von den Herstellern des Glaubens und ihren politischen Verbündeten monopolmedial verbreitet wurde. Und der Versuch, die Diversifizierung der religiösen Ansichten in den individuellen Köpfen selbst denkender Menschen machtvoll zu unterdrücken, wurde mit inquisitorischem Eifer umgesetzt. Die Publikationen der Häretiker wurden – wie man es heute wohl nennen würde – faktengecheckt und bei Widersprüchen zur herrschenden Auffassung wohlmeinend gecancelt.
Infolge der religiösen Neuausrichtung in der Bevölkerung verwarfen sich nicht nur kirchliche, sondern auch ganz handfest wirtschaftliche Strukturen. Abweichler wurden verfolgt und wichen in andere Länder aus. Die sozioökonomischen Sicherheiten kollabierten. Mit anderen Worten: Auch die wirtschaftliche Basis vieler brach weg und sie mussten umherziehen, um ihr Leben zu retten. Der Kontinent sah plötzlich in ungewohntem Ausmaß Flüchtende und Schutzsuchende. Deren Versorgung stellte die Gemeinden mitten in der Krise vor große Probleme. Bei der Emder Synode berieten Protestanten aus ganz Europa im Herbst 1571 ganze zehn Tage lang, wie sie ihre neuen unabhängigen Kirchen sinnvollerweise selbständig organisieren. Und die Beschlüsse, die sie dort fassten, klingen in den Ohren der Gegenwart sehr erhellend.
Denn neben Fragen der Selbstorganisation und Klarstellungen zu religiösen Details wurden damals ganz praktische Probleme der Sozialordnung diskutiert. Man liest:
„Sehr nützlich ist eine Verbindung der Gemeinden untereinander in der Art, dass sie sich durch häufigen Briefwechsel über das austauschen, was in den Gemeinden allgemein und in einigen auch im Besonderen zur Förderung ihres Bestandes und Wachstums beiträgt. Sie sollen auch Irrlehrer, Gemeindespalter, Leute, die sich für Geld kaufen lassen, Laufburschen und andere derart schädliche Gestalten beim Namen nennen, damit die Gemeinden sich vor ihnen in Acht nehmen können.
Es muss auch der schweren Belastung der Gemeinden begegnet werden, die täglich durch die Leichtfertigkeit derer zunimmt, die allzu schnell ihren Wohnsitz wechseln, und anderer, die unter dem Vorwand ihrer Armut und ihres Glaubens die Almosen an sich reißen, welche für die einheimischen Gläubigen notwendig sind und ihnen zustehen. In den einzelnen Gemeinden soll öffentlich darauf hingewiesen werden, dass diejenigen, die wegziehen, künftig in anderen Gemeinden nur dann wie Einheimische unterstützt werden, wenn sie ein von ihrer früheren Gemeinde ausgestelltes Zeugnis über ihr Leben und ihren Glauben vorlegen.
Die Pastoren sollen diejenigen, die sie um ein Zeugnis bitten, sorgfältig befragen, weshalb sie wegziehen wollen. Sie sollen ihnen strikt das Zeugnis verweigern, wenn sie feststellen, dass kein triftiger Grund für ihren Wegzug vorliegt. Pastoren und Diakone sollen sich hüten, allzu leichtfertig ihre Gemeinden von den Armen zu entlasten und andere Gemeinden ohne Notwendigkeit mit ihnen zu belasten. Bei denen, welchen sie ein Zeugnis geben können, nennen sie: Name, Vorname, Geburtsort, Beruf, Grund des Wegzugs, Dauer des Aufenthalts in der Gemeinde, Lebensführung, Zeitpunkt der Abreise, Ziel der Reise und Ähnliches.
Den Wegziehenden soll so viel mitgegeben werden, wie sie bis zur nächsten Gemeinde, die sie erreichen, brauchen. Die Summe wird im Zeugnisbrief notiert. Dasselbe sollen die anderen Gemeinden tun, durch die sie ziehen, und zwar jede Gemeinde nach ihren Möglichkeiten. Wenn der überreichte Zeugnisbrief und alles andere in Ordnung ist, sollen sie ihnen so viel geben, wie nach ihrer Meinung bis zur nächsten Gemeinde notwendig ist. Das tragen sie im Zeugnisbrief gemeinsam mit dem Tag der Abreise ein. So sollen auch die anderen Gemeinden verfahren, bis jene am Zielort angekommen sind, wo das Zeugnis vernichtet wird.“
All dies kommt uns doch, wenn wir die Zeitung lesen, einigermaßen vertraut vor. Offenbar ist die Frage, wer welche Unterlagen wo vorzulegen hat, um berechtigt Hilfe verlangen zu dürfen, eine solche, die uns Menschen auch schon vor dem Beginn der aktuellen Migrationswellen ethisch beschäftigt hat. Und auch die Glaubwürdigkeit einzelner Hilfesuchender hat unsere Vorfahren umgetrieben:
„Die französische Gemeinde in Antwerpen fragt, wie man mit einer Frau verfahren soll, die behauptet, vor vier oder fünf Jahren ihren Mann im Krieg verloren zu haben, aber keinen sicheren Beweis für seinen Tod liefern kann. Die Antwort lautet: Sie soll einen öffentlichen Aufruf durch die Autorität der Obrigkeit ergehen lassen. Wenn sie das nicht erreichen kann, soll sie die Obrigkeit bitten, ihr einen Termin zu setzen, bis zu dem sie warten muss. Kann sie beides nicht erreichen, rät man ihr, in eine Stadt zu ziehen, in der die Obrigkeit ihr hilft und ihren Einfluss geltend macht.“
Auch das, was wir heute „Erinnerungskultur“ nennen, hat schon 1571 seinen Niederschlag in den Beschlussfassungen der damaligen Synode gefunden:
„Im Namen dieser Synode wird Herr von St. Aldegonde gebeten, eine geschichtliche Darstellung über alles zu verfassen, was sich seit einigen Jahren in den Niederlanden zugetragen hat. Dabei geht es besonders um die Errichtung von Gemeinden, ihre Verfolgung, die Beseitigung und Wiederherstellung des Götzendienstes, die Standhaftigkeit der Märtyrer, die furchtbaren Gerichte Gottes über die Verfolger, die politischen Umwälzungen und Ähnliches.“
Denn die spätere Aufarbeitung zum Verständnis des erlebten Ungeheuerlichen sollte verständlicherweise auf Dokumentiertem beruhen. Sogar die Ausbildung künftiger Koordinatoren wurde geregelt:
„In den größeren Gemeinden sollen eigene Seminare abgehalten werden, in denen sich diejenigen im Predigen üben, bei denen begründete Hoffnung besteht, dass sie einmal der Gemeinde mit dem Wort dienen können.“
Wer immer also derzeit den Mut zu verlieren fürchtet, dass unsere Gesellschaft wieder in geordnete und menschenfreundlichere, rechtsstaatliche und verlässliche Bahnen zurückfindet, der kann aus diesen Zeilen Hoffnung schöpfen. Nach dem Chaos geht es weiter, die Unordnung bleibt nicht und die Rücksichtslosigkeiten einiger, die ihre untergehende Macht illegitim zu erhalten versuchen, werden überwunden. Man muss nur schon damit anfangen nachzudenken, zu reden und sich in Gruppen gleichgesinnt Wohlmeinender versammeln. Wer Sorge hat, hier keinen Anschluss zu finden, der sollte am besten auf einen Baum klettern und winken, wenn ein Rettungshubschrauber in der Nähe ist. Mit modern erhöhten Geschwindigkeiten sollte sich vermeiden lassen, dass es diesmal – wie bei den Menschen nach 1571 – ebenfalls erst noch eines Dreißigjährigen Krieges bedarf, bis der Verstand wieder siegt. Man muss es nur wollen.
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