Ökonomie: Das Beste aus Kapitalismus und Sozialismus kombinieren
Realistisch oder Illusion?
von Olivier Kessler
Dass die freie Marktwirtschaft in der Lage ist, enormen Wohlstand für breite Schichten hervorzubringen und die allgemeinen Lebensstandards massiv anzuheben, ist selbstverständlich kein Klischee, sondern hat sich in der Theorie und in der Praxis bestätigt. Dass jedoch der Sozialismus Vorteile hätte und für eine fairere Verteilung sorgen würde, ist ein Mythos, der sich trotz unzähligen Anschauungsexemplaren hartnäckig hält. In einem sozialistischen System, in dem das Primat der Politik gilt, profitieren jene Interessensgruppen übermäßig, die nahe am Gewaltmonopol operieren und dadurch in den Genuss von unverdienten Sonderprivilegien gelangen. Die meisten Bürger gehen hingegen leer aus, weil sie nicht über einen entsprechenden Zugang zum Machtapparat verfügen.
Den Armen geht es in den Ländern mit dem höchsten Kapitalismusanteil wesentlich besser als in tendenziell sozialistisch organisierten Staatswesen. Dies zeigen die Zahlen des Index für wirtschaftliche Freiheit. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den freisten Ländern erwirtschafteten ein Pro-Kopf-Einkommen von 14.204 Dollar, während die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den unfreisten Ländern lediglich 1.736 Dollar verdienten. Damit verdienten die ärmsten zehn Prozent in den freiesten Ländern mehr als das Doppelte als die Durchschnittsbevölkerung in den unfreiesten Ländern. Im unfreiesten Viertel sind 31,5 Prozent der Bevölkerung von extremer Armut betroffen (1,90 Dollar pro Tag), während es im freiesten Viertel aller Länder lediglich zwei Prozent sind. Zudem liegt die Lebenserwartung im obersten Viertel bei 80,4 Jahren, im untersten Viertel bei 66 Jahren.
In tendenziell kapitalistischen Ländern werden die Lebensstandards der „Armen“ dank den Anreizen des Systems derart angehoben, dass sie wesentlich wohlhabender und komfortabler leben als ein Kaiser in vorkapitalistischen Zeiten. Die Zwangsumverteilung zur Sicherung der Grundbedürfnisse wird daher im Kapitalismus zunehmend unnötig.
Doch selbstverständlich werden die Menschen im Kapitalismus mit steigendem Reichtum nicht weniger solidarisch. Gerade weil es sich bei den meisten Menschen um empathische und solidarische Wesen handelt und weil im System wirtschaftlicher Freiheit der Wohlstand tendenziell wächst, befinden sich private Hilfswerke je länger, je weniger in Geldnot. Seit vielen Jahren verzeichnen etwa Hilfswerke in der Schweiz, dem wirtschaftlich viertfreiesten Land der Welt, Jahr für Jahr neue Spendenrekorde. Während die Schweizer 2003 noch 1.071 Millionen Franken gespendet hatten, waren es 2021 bereits 2.051 Millionen Franken, also fast das Doppelte.
Die freiwillige Solidarität nimmt daher in tendenziell freiheitlichen Systemen laufend zu, während im Sozialismus nicht einmal die Mittel vorhanden sind, um die eigenen Grundbedürfnisse zu stillen. Aufgrund des permanenten Mangels gibt es dort ohnehin nicht mehr viel umzuverteilen.
Doch was ist falsch daran, freie Märkte tendenziell zuzulassen und gleichzeitig mit ein paar moderaten sozialistischen Elementen wie etwa den staatlichen Sozialversicherungen dafür zu sorgen, dass alle Menschen einen fairen Anteil vom steigenden materiellen Wohlstand haben?
Zwar ist es vorstellbar, eine minimale Absicherung und Vorsorge für die Schwächsten der Gesellschaft durch eine gemäßigte Umverteilung sicherzustellen. Jedoch besteht bei einem einmal etablierten Wohlfahrtsstaat die Gefahr, aus dem Ruder zu laufen. Weltweit kann eine eindeutige Tendenz zur Überbordung beobachtet werden. Immer mehr Ansprüche werden an den Staat gestellt, die nur durch immer höhere Steuern, weitere Staatsverschuldung und letztlich eine ultralockere Geldpolitik gedeckt werden können. Der sich aufblähende Wohlfahrtsstaat, der ursprünglich als Kompromiss zwischen Kapitalismus und Sozialismus konzipiert wurde, führt längerfristig in den kollektiven Bankrott und den finanziellen Kollaps. Er ist eine reine Wunschvorstellung, die letztlich Schritt für Schritt in den Sozialismus mündet, wie Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek in seinem Werk „Der Weg zur Knechtschaft“ aufgezeigt hat.
Sozialistische Komponenten können nicht einfach mir nichts, dir nichts in eine freie Marktwirtschaft eingepflanzt werden, ohne dass dies negative Konsequenzen hätte. Werden beispielsweise die Produktionsmittel teilweise in die Hände des Staates gelegt, so wie das beim „Service public“ und staatlichen Unternehmen der Fall ist, werden Regulierungen wie etwa Mindestlöhne und Höchstpreise erlassen, Anspruchsrechte wie das Recht auf Bildung und Gesundheitsversorgung implementiert und sozialstaatliche Umverteilungsmaßnahmen beschlossen, so werden damit wichtige Anreize des freien Marktes verzerrt oder vernichtet. Dies erzeugt negative Neben- und Folgeeffekte, die beim Erlass der Maßnahmen kaum je berücksichtigt werden.
Angenommen, es wird eine Mietpreisbremse erlassen, um die Mieter vor zu hohen Mieten zu schützen. Diese hat nun aber die Folge, dass niemand mehr neue Mietwohnungen baut, weil dieses Geschäft zu diesen politisch verordneten Mietpreisen nicht mehr rentabel erscheint. Die Politik müsste also erneut eingreifen, um diesem von ihr selbst verursachten ungünstigen Ergebnis entgegenzuwirken. Sie wird also beispielsweise Höchstlöhne für Bauarbeiter einführen, damit wieder profitabel gebaut werden kann. Dies jedoch könnte die Bauarbeiter wiederum in eine Misere stürzen, weil sie plötzlich zu wenig Einkommen haben, um ihre Familien zu ernähren. Sie werden sich daher eher anderen Berufen zuwenden, in denen sie mehr verdienen, was zu einem Bauarbeitermangel führt und die Wohnungsnot weiter verschärft. Die Politik ist schon wieder zum Handeln gezwungen. Und so weiter und so fort. Der Ökonom Ludwig von Mises warnte vor dieser verheerenden Dynamik, die er „Interventionsspirale“ nannte. Er sah bereits in den allerersten Staatseingriffen, die nicht dem Schutz von Leib, Leben und Eigentum dienen, ein Einfallstor für die Politik, die freie Marktwirtschaft Stück für Stück durch sozialistische Interventionen zu ersetzen und sie letztlich abzuschaffen.
Diese Interventionsspirale kann auch im Bereich der Altersvorsorge beobachtet werden. Die politisch eingeführte AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung in der Schweiz) ist äußerst anfällig für demographische und wirtschaftliche Veränderungen. Die an und für sich erfreuliche Entwicklung der steigenden Lebenserwartung bereitet dem starren bürokratischen Umverteilungswerk – das die zwangsweise eingezogenen Gelder der arbeitenden Bevölkerung an Pensionierte umverteilt – große Mühe. Ohne immer weitergehende Eingriffe in das persönliche Eigentum der Bürger in Form von steigenden Steuern wäre das „Sozialwerk“ längst bankrott. Die steigende Steuerlast jedoch führt zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, weshalb eine ultralockere Geldpolitik einspringen und für die nötigen Impulse sorgen muss, was wiederum zu Blasenbildung und Wirtschaftskrisen führt, worauf der Staat wieder einspringen muss. Ein regelrechter Teufelskreis.
Es gilt zu akzeptieren, dass die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie nicht durch sozialistisches Wunschdenken dauerhaft ausgehebelt werden können, ohne dass dies negative Konsequenzen hätte. Es ist daher illusorisch anzunehmen, die Beimischung sozialistischer Gewürze mache den kapitalistischen Braten schmackhafter.
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