Geschichte des Anarchismus – Teil 5: Peter Kropotkin, der nicht ganz so heilige Revolutionär
Wie kommunistisch ist der kommunistische Anarchismus?
von Stefan Blankertz
Für ein Zusammendenken von Anarchismus und marxistischem Kommunismus eignet sich Peter Kropotkin (1842–1921) vordergründig am besten, denn er ist der Erfinder des Begriffs „kommunistischer Anarchismus“, wohl wissend, dass sich sowohl der Vater des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon, als auch der mächtigste Propagandist der Bewegung, Michael Bakunin, scharf gegen den Kommunismus ausgesprochen hatten, egal, ob in der Form, die Marx vertrat, oder in einer anderen damals geläufigen (und heute meist vergessenen) Form. Von heutigen Anarchisten, die sich links positionieren, wird, wenn sie überhaupt je auf die Tradition des Anarchismus zurückgreifen, gern von einer „Weiterentwicklung“ der anarchistischen Idee zum Kommunismus durch Kropotkin gesprochen und so getan, als sei dies auch die Endstufe der Entwicklung, an der man festhalten müsse. Dies blendet völlig aus, dass es zu Kropotkins Zeiten in der anarchistischen Bewegung eine lebendige Diskussion über seine Thesen gab. Führende Theoretiker und Praktiker wiesen darauf hin, dass die Vorstellung, Menschen würden sich, einmal befreit, auf jeden Fall kommunistisch organisieren, falsch sei. Vielmehr hielten auch Anhänger von Kropotkin an Bakunins Losung fest, die Revolution dürfe dem Volk keine Vorschriften machen, wie es die befreite Gesellschaft einrichte; alles sei zulässig, solange das Prinzip der Freiwilligkeit gewahrt werde. Andere wiesen darauf hin, Kropotkin vertrete gar keinen Kommunismus (im marxistischen Sinne), sondern einen Kommunalismus. Kropotkin selber tendierte in späteren Jahren dazu, bei Neuauflagen seiner Werke den Begriff „Kommunismus“ durch „Kommunalismus“ zu ersetzen. (Anmerkung zu der Formulierung „die Revolution dürfe dem Volk keine Vorschriften machen“: Der historischen Exaktheit willen verwende ich hier den von Bakunin genutzten Volks-Begriff, den ich inzwischen für problematisch halte. Es gibt „das“ Volk nicht.)
Kropotkin eignet sich für ein Zusammendenken von Anarchismus und marxistischem Kommunismus freilich nur für den, der nichts von ihm liest. Kaum ein anarchistischer Theoretiker war weiter vom Marxismus entfernt als Kropotkin. Mit Proudhon und Bakunin teilte Marx immerhin noch den gemeinsamen Bezug auf die Philosophie Hegels. Kropotkin dagegen legte ein naturwissenschaftliches, positivistisches Wissenschaftsverständnis zugrunde.
Aber stimmte das, was Kropotkin Kommunismus nannte, in praktischer Hinsicht mit dem überein, was die Marxisten darunter verstanden? Keineswegs.
In einer Skizze der zukünftigen „kommunistischen“ Gesellschaft geht Kropotkin 1892 auf die Frage ein, was eine (freiwillige) Arbeitsgruppe tun könne, wenn ein Mitglied keine oder schlechte Arbeit leiste. Kropotkins Antwort: Die Gruppe wird dieses Mitglied ausschließen. Merkwürdigerweise stellt Kropotkin diesen Ausschluss dem von ihm angeprangerten Lohnsystem des Kapitalismus entgegen. Doch muss der Ausschluss auch bedeuten, dass das ausgeschlossene Mitglied keinen Zugang zu den Gütern hat, die von den anderen produziert werden; ansonsten machte der Ausschluss keinen Sinn. Man kann das Lohn nennen oder nicht – auf jeden Fall ist die Beteiligung an den Gütern an eine Gegenleistung gebunden.
Einen psychologischen Schlüssel für Kropotkins merkwürdige Vorstellung, man würde nicht für einen Lohn arbeiten, findet sich in den Passagen der Kindheitserinnerungen seiner „Memoiren eines Revolutionärs“ (1899), die übrigens eine außerordentliche literarische Qualität besitzen. Er hatte als Kind ein inniges Verhältnis zu den Bediensteten des Hauses: Kropotkin stammte aus dem russischen Hochadel (als Jugendlicher war er sogar für eine gewisse Zeit Zimmerpage des Zaren gewesen). Im feudalistischen Russland waren die Bediensteten keine Lohnarbeiter im heutigen Sinne. Überhaupt verharrte der Feudalismus noch weitgehend in einem vormonetären Zustand. Die Bediensteten arbeiten für Kost und Logis. Sie zeigten sich auch, soweit die Herrschaften sie gut behandelten, mit ihrem Schicksal einverstanden, und vor allem behandelten sie deren Kinder mit Liebe. Kropotkin muss schon als Kind ein ausgesprochen einnehmendes Wesen gehabt haben. Dass die Hausbediensteten dennoch auch für ihren Lebensunterhalt arbeiteten und man im ökonomischen Sinn Kost und Logis als Lohn betrachten muss, sah Kropotkin sogar später nie ein; auch nicht, dass die Bediensteten sich vielleicht lieber um die eigenen als um die Kinder der Herrschaften gekümmert hätten.
An einer weiteren Stelle in seiner erwähnten Skizze der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft wird noch deutlicher, dass Kropotkin indirekt sehr wohl strikte Eigentumsverhältnisse zugrunde legte. In ihr beschreibt er, dass ein (freiwilliger) Zusammenschluss von Personen potenziellen neuen Mitgliedern das Angebot mache, die Infrastruktur nutzen zu dürfen, wenn sie sich zu einer gewissen Arbeit als Gegenleistung verpflichteten. Die Infrastrukturen stehen demnach nicht jedem frei zur Verfügung, sondern sind Eigentum. Die Eigentümer stehen zu den Mitgliedern im Vertragsverhältnis. Das entspricht genau dem Konzept der freien Privatstädte, das gegenwärtig Titus Gebel vertritt.
Emma Goldman war eine aus Litauen stammende amerikanische Anhängerin Kropotkins. Sie bezeichnete sich als (anarchistische) Kommunistin, aber interessanterweise waren neben Kropotkin die radikalen Individualisten Henrik Ibsen und Friedrich Nietzsche wichtige Ideengeber für sie. Nach dem Ersten Weltkrieg deportierten sie die USA nach Russland, wo sie die Anfänge des Leninismus miterlebte. Als der unter Hausarrest stehende Kropotkin 1921 starb, war seine Beerdigung die letzte vom Staat geduldete öffentliche Kundgebung von Anarchisten. Emma Goldman floh aus Russland und war eine der Ersten, die über die Repression in der sich formierenden UdSSR berichtete. Im Zusammenhang mit der Fragestellung, wie ernst die kommunistischen Anarchisten den Kommunismus nahmen, ist besonders hervorzuheben, dass Emma Goldman an der leninistischen Landreform vor allem kritisierte, dass den Bauern das Land, das sie bearbeiteten, nur pro forma übereignet worden war (dies war vor den Zwangskollektivierungen unter Stalin). Der eigentliche Eigentümer sei der Staat. Auf diese Situation führte sie die Hungersnot zurück.
In einer anderen Hinsicht trug Kropotkin einen wertvollen Gedanken zur anarchistischen Theorie bei – ja, nicht nur zur anarchistischen Theorie, sondern zum wissenschaftlichen Verständnis der Lebensgrundlage. 1902 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt: Ein Faktor der Evolution“. Kropotkin modifizierte die Evolutionstheorie Darwins dahingehend, dass ein Überleben von Individuen und Arten ohne den Faktor der gegenseitigen Hilfe nicht denkbar sei. Noch heute erwähnen Evolutionsbiologen Kropotkin mit diesem Gedanken.
Doch das Buch ist weit mehr als nur ein Beitrag zur Biologie und Evolutionstheorie. Der größere Teil des Buches ist der gegenseitigen Hilfe im Laufe der Geschichte der Menschenwelt gewidmet, angefangen von den damals sogenannten Barbaren, Primitiven oder Wilden über das Mittelalter bis hin in die Gegenwart. Proudhon und Bakunin waren noch weitgehend dem Weltbild der Aufklärung verhaftet: Erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert habe der Menschheit einen Ausweg aus Aberglauben, Mystizismus und Unterdrückung ermöglicht. Kropotkin dagegen wies darauf hin, dass es eine Zeit vor dem Staat gegeben habe und dass der Staat nicht immer gleich stark gewesen sei. Zudem bleibe jeder, auch der stärkste Staat, auf eine funktionierende (freiwillige, gesellschaftliche) gegenseitige Hilfe angewiesen. Anarchie sei keine Utopie, sie habe einen Ort. Es gehe nicht um die Einrichtung einer neu zu erdenkenden gesellschaftlichen Struktur, sondern um die Befreiung der vorhandenen Gesellschaft vom Joch des Staats. Bezogen auf Russland hatte Bakunin schon diese Idee vorweggenommen: In der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft, dem Mir, sah er die Keimzelle der besseren Gesellschaft. Der Mir war weitgehend autonom und selbstbestimmt, nur befand sich das Land eben im Besitz von Feudalherrn. Marx übrigens klassifizierte das Anknüpfen Bakunins an den Mir als romantisch und reaktionär. Die Leninisten und Stalinisten ließen von der traditionellen Dorfgemeinschaft denn auch nicht die geringste Spur übrig.
Mit der Begriffsbildung „kommunistischer Anarchismus“ setzte Kropotkin ein Missverständnis in die Welt, die dem Anarchismus großen Schaden zufügte. Für einen weiteren Schaden war Kropotkin weniger verantwortlich. Eine Reihe seiner Anhänger tendierten am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Strategie des individuellen Terrors als Initialfunke für eine Revolution (dieser Fraktion der kommunistischen Anarchisten gehörte auch Emma Goldman an, zumindest zeitweise); diese Strategie propagierten sie ungeachtet dessen, dass sowohl Proudhon als auch Bakunin sie abgelehnt hatten. Kropotkin selber war ein friedlicher Mensch, galt seiner Umgebung fast als Heiliger, aber hat sich leider nicht klar genug von dieser Strategie distanziert. Sie ist es, die bis heute das Image des Anarchismus prägt.
Wenn man allerdings die Zahl und die Opfer von Terroranschlägen oder Attentaten im 19. und 20. Jahrhundert anschaut, so wird man feststellen, dass nur eine verschwindend geringe Menge auf das Konto von Tätern geht, die sich als Anarchisten bezeichneten (unabhängig davon, ob sie den Begriff sinnvoll zu füllen verstanden). Selbst bei einer Einschränkung des Zeitraums auf 1875 bis 1925 – jene 50 Jahre der größten Verbreitung der anarchistischen „Propaganda der Tat“ – wird der Anteil nicht groß sein. Andere politische, religiöse und nationale Bewegungen gingen (und gehen) mit viel größerer Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie Mitmenschen im Namen ihrer Sache bedrohen oder ermorden dürfen.
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