Wirtschaftsordnungen: Ist der Kapitalismus eine Ideologie in den Diensten der Reichen?
Ein linkes Narrativ auf dem Prüfstand
von Olivier Kessler
Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek kritisierte die Sichtweise, alles gesellschaftlich Beobachtbare sei auf eine zielgerichtete Erfindung oder einen bewussten Entwurf zurückzuführen. Viele Konventionen, Verhaltensregeln und Interaktionsformen seien nicht Ergebnis eines menschlichen Masterplans oder eines erlassenen Befehls, sondern hätten sich über Jahrhunderte und Jahrtausende evolutionär und spontan entwickelt. Der Mensch sei nicht deshalb erfolgreich, weil er wisse, weshalb er gewisse Handlungen ausführen und Regeln befolgen müsse, sondern weil sein Denken und Handeln von Regeln bestimmt seien, die in der Gesellschaft durch einen Selektionsprozess entstanden und somit das Ergebnis der Erfahrungen von unzähligen Generationen sind.
Hayek unterscheidet zwischen der zielgerichtet erzeugten Ordnung – jener Ordnung also, die den persönlichen Zwecken des Ordnenden dient, bewusst herbeigeführt und sehr konkret ist – und der über einen langen Zeitraum hinweg gewachsenen und bewährten Ordnung. Die gewachsene Ordnung ist spontan, stellt sich selbst her, ist abstrakt und komplex. Sie erfüllt zwar eine Funktion, aber sie verfolgt keinen Zweck einer bestimmten denkenden Instanz.
Märkte, und damit auch der Kapitalismus, gehören zur Kategorie der evolutionär gewachsenen Ordnungen. Sie entstehen dadurch, dass gewisse Regeln systematisch und aus freien Stücken befolgt werden. Genauso wie Sprachen, die aus menschlicher Interaktion hervorgegangen ist, sind auch Märkte kein Produkt einer Ideologie und eines bewussten Plans. Märkte sind kein erfundenes Kopfkonstrukt, das von einer politischen Instanz mit Zwang durchgesetzt und der Gesellschaft unnatürlich übergestülpt werden müsste. Vielmehr entstehen Märkte aufgrund des spontanen Zusammenwirkens einer Vielfalt von Menschen – und dies ganz ohne politische Eingriffe.
Märkte entsprechen dem menschlichen Bedürfnis des Austauschs und des sich Besserstellens, woraus Arbeitsteilung und Spezialisierung entstehen, die allen Beteiligten nützen. Dies zeigt sich dadurch, dass Märkte überall aufblühen, selbst wenn sie vom Staat unterdrückt werden. Schränkt der Staat beispielsweise den freien Kapitalverkehr ein, entstehen Schwarzmärkte für den Handel mit Fremdwährungen, wie aktuell beispielsweise in Argentinien, wo die Bürger ihre inflationierende Landeswährung gegen stabileres Geld eintauschen wollen. In der Sowjetunion, wo der Handel mit westlichen Produkten wie etwa Jeans zeitweise strikt untersagt war, bildeten sich bald Schwarzmärkte, die die Funktion der Bedürfnisbefriedigung von Menschen übernahmen.
Der Kapitalismus ist jene Wirtschaftsordnung, in der das Eigentum der Bürger geschützt ist, in der also das wichtige evolutionär gewachsene ethische Gebot des „Du sollst nicht stehlen“ gilt. Wenn das rechtmäßig erworbene Privateigentum geschützt ist, steht es auch jedem frei, mit seinen Eigentumstiteln mit anderen Menschen zu handeln. Es entstehen folglich Austauschprozesse – Märkte –, in denen die Akteure einvernehmlich und aus freien Stücken miteinander tauschen.
Eine solche Wirtschaftsordnung wird von niemandem befohlen und dient auch nicht in erster Linie den Reichen, wie das immer wieder impliziert wird. Den relativ Ärmsten geht es gerade in jenen Ländern am besten, die noch am ehesten als „kapitalistische“ Länder bezeichnet werden können. Sie verdienen in tendenziell kapitalistischen Ländern wesentlich besser als in unfreien Ländern und kommen dort in den Genuss einer massiv höheren Lebensqualität und eines größeren Wohlstands.
Kapitaleigner haben im Kapitalismus nicht „die Macht“, wie immer wieder lapidar behauptet wird. Wie der Ökonom Ludwig von Mises unterstrich, ist der Kapitalismus jene Wirtschaftsordnung, in der die Konsumenten das Sagen haben, nicht die Kapitaleigner. Es sind die Konsumenten, die bestimmen, was produziert werden soll. Der Kunde ist König. Mit ihren täglichen Kaufentscheidungen signalisieren sie den Kapitaleignern, worin diese investieren sollten, wenn sie kein Geld verlieren wollen. Im Kapitalismus, in dem es keine interventionistischen Regulierungen gibt, welche die Konsumenten in ihrer Wahlfreiheit einschränken, bestimmen somit einzig und alleine die Konsumenten über die Mittelverwendung. Sie entscheiden, welche Firmen letztlich überleben und welche als überflüssig erachtet werden.
Im Gegensatz zum Kapitalismus ist der Sozialismus in all seinen Erscheinungsformen – braun, rot, grün oder religiös angehaucht – durchaus eine Ideologie. Der Sozialismus ist ein Kopfkonstrukt, das der Gesellschaft von oben herab aufgezwungen werden soll, weil es dem natürlichen Verlauf der Dinge und menschlichen Bedürfnissen widerspricht. Er wurde schon unzählige Male an verschiedensten Orten der Welt ausprobiert, jedoch ohne Erfolg. Zuverlässig schauten dabei jeweils Leid, Terror, Hunger und Tod heraus, weil die natürliche Ordnung durcheinandergebracht wurde, die evolutionär während Jahrtausenden entstanden ist.
Während der Kapitalismus diejenige Ordnung ist, die auf freiwilligem, gewaltlosem und gegenseitigem Austausch basiert, ist der Sozialismus jene, die ohne Zwang und Unterdrückung gar nicht eingeführt und fortbestehen könnte. Mittels staatlicher Gewalt sollen etwa rechtmäßige Eigentümer enteignet werden. In vielen Fällen wurden sie in Arbeitslager gesteckt oder exekutiert, weil sie als „bürgerliche Gefahr“ für das sozialistische System eingestuft wurden. Ein allmächtiger Staat soll das Zepter übernehmen und anstelle freier Bürger Entscheidungen über deren Köpfe hinweg treffen. Der Sozialismus ist daher die unnatürliche und nicht nachhaltige Ordnung nackter Willkür, in der sich eine kleine Clique von Räubern bereichert und die Macht über alle anderen ausübt. Diese Zusammenhänge illustrierte George Orwell anschaulich in seinem Buch „Animal Farm“, in dem sich die Schweine, die sich als Anführer der sozialistischen Bauernhofrevolution aufschwingen, auf Kosten der „Proletarier“ die Bäuche vollschlagen.
Auch der Staatsinterventionismus – also die Einmischung der Politik in die Austauschprozesse der Menschen – ist eine Ideologie. Die Staatsakteure maßen sich an, besser als das über Jahrtausende hinweg evolutionär gewachsene Zusammenwirken einer Vielzahl von Menschen zu wissen, was gut für alle ist. Diese Anmaßung wird von Hayek in Bezug auf die mangelnde Informationsbasis kritisiert: Aufgrund der Begrenztheit des menschlichen Wissens dürfe die Politik keinesfalls bestimmte Ergebnisse des Selbstordnungsprozesses diktieren, weil dies ungemeinen Schaden anrichte. Schon 600 Jahre vor Christus meinte der chinesische Philosoph Laotse treffend, die höchste Pflicht einer Regierung sei es, nichts zu tun: „Machen Sie nichts, und nichts wird ungemacht bleiben.“ Durch dieses Nichtstun zeigt eine Regierung nicht etwa Schwäche oder Unentschlossenheit, sondern Weisheit und wahre Stärke.
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