15. Dezember 2023 07:00

Geschichte des Anarchismus – Teil 6 Liberaler oder sozialrevolutionärer Anarchismus?

Liberalismus und Anarchismus in den USA

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Everett Collection / Shutterstock Jeffersonianer Henry David Thoreau: „Die beste Regierung ist jene, die am wenigsten regiert“

Der Anarchismus in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelte sich anders als der in Europa. Früher als in Europa, aber noch ohne den Begriff zu nutzen, merkten konsequente Anhänger des radikalliberalen Gründungsvaters und dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson, dass der Einfluss des Zentralstaats immer stärker wurde. Außerdem fanden die Liberalen keine Antwort auf die im Zuge der fortschreitendenden Industrialisierung entstehenden sozialen Probleme. Vor allem aber ordnete sich die offizielle Politik in einer aus liberalen Sicht problematischen Weise: Auf der einen Seite standen die hauptsächlich in den Nordstaaten beheimateten zentralstaatlichen Befürworter von protektionistischer Wirtschafts- und Bankenpolitik, die aber die Sklaverei ablehnten (ab 1850 in der Republikanischen Partei organisiert). Auf der anderen Seite befanden sich die südstaatlichen Befürworter der Sklaverei, die für die Autonomie der Bundesstaaten sowie gegen Protektionismus und Bankenwesen eintraten (die traditionelle Demokratische Partei). Für einen konsequenten Liberalen hätte die Kombination anders ausgesehen – nämlich sowohl Ablehnung der Sklaverei als auch Ablehnung des Zentralismus und Protektionismus.

Der heute noch prominenteste unter diesen Jeffersonianern, die sich durch diesen der liberalen Vernunft widerstreitenden Frontverlauf aus der offiziellen Politik herausgeschleudert sahen, war der Philosoph Henry David Thoreau (1817–1862). Thoreau gilt als Begründer des zivilen Ungehorsams als Strategie der Veränderung, auf den sich unter anderem auch Mahatma Gandhi bezog. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass Thoreau, was die Sklavenfrage betrifft, einen militanten Standpunkt bezog. So unterstützte er John Brown, der 1859 hingerichtet wurde, weil er einen (erfolglosen) bewaffneten Sklavenaufstand initiiert hatte. Das heißt, dass Thoreau kein dogmatischer Vertreter des Pazifismus war: Für gab es auch Konflikte, in denen er Gewaltanwendung für legitim hielt, so etwa in dem Konflikt um die Abschaffung der Sklaverei.

Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) war für den klassischen Liberalismus die Katastrophe schlechthin. Als Liberaler konnte man keiner Seite zustimmen. Ungefähr zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg machte ein junger Jeffersonianer auf einer Europareise Bekanntschaft mit den Gedanken Pierre-Joseph Proudhons und dem Anarchismus, Benjamin R. Tucker (1854–1939). Tucker war ein Anhänger des Sozialreformers Josiah Warren (den ich in der Folge zwei der Serie bereits vorgestellt habe) und erkannte die Parallele zu den proudhonschen Theorien, ja, er bezeichnete sich sogar hin und wieder als Sozialist, wenn auch mit fortschreitender Geschichte immer seltener angesichts dessen, was Marxisten der sozialdemokratischen und der kommunistischen Strömung darunter verstanden.

Der Beitrag, den Tucker zur Entwicklung der anarchistischen Theorie leistete, war seine Skizze einer Polizei in privatwirtschaftlicher Konkurrenz. Ich nenne dies das Erwachsenwerden des Anarchismus: Tucker räumte auf mit der kindlich-naiven Vorstellung, in einer besseren, gerechteren Gesellschaft werde es keine Kriminalität mehr geben, keine Übergriffe auf die Freiheit und das Eigentum von Mitmenschen. Es waren Tuckers Gedanken in dieser Hinsicht, die rund achtzig Jahre später den jungen radikalliberalen Ökonomen Murray Rothbard überzeugten, dass man eine Gesellschaft ganz ohne Staat organisieren könne. Zwar stellte sich später heraus, dass vor Tucker bereits der Franzose Gustave de Molinari 1846 über die Möglichkeit einer privaten Organisation der Sicherheit nachgedacht hatte. Aber Molinari war kein Anarchist, sondern ein Liberaler. Beide, die Liberalen wie die Anarchisten, ignorierten seine Ideen. Ob Tucker sie kannte, ist ungeklärt (es gibt, soweit ich sehe, jedenfalls keine direkten Belege dafür).

Ab ungefähr der gleichen Zeit trugen deutsche, französische, italienische und russische Immigranten den europäischen Anarchismus nach Amerika, und zwar hauptsächlich in der Variante des kommunistischen Anarchismus (den ich im fünften Teil der Serie letzte Woche vorgestellt habe). Tucker begrüßte zunächst die Ideen Kropotkins, besonders dessen Vorstellung von gegenseitiger Hilfe lagen ihm nahe, doch dogmatisierten die kommunistischen Anarchisten Kropotkins Ideen in einer Weise, die Tucker abstieß. Sie behaupteten, Menschen würden sich, einmal in Freiheit gesetzt, kommunistisch (also ohne formalisiertes Eigentum) organisieren. Einen anderen Gedanken ließen sie nicht zu. Zunehmend wurde unklar, was sie mit denjenigen tun würden, die eine andere Weise der gesellschaftlichen Organisation vorziehen. Würden sie diese dann zwingen, zu Kommunisten zu werden? Außerdem verband sich der kommunistische Anarchismus in den USA wie auch in Europa mit der Taktik der individualistischen Propaganda der Tat, verstanden als Attentate auf Personen oder sogar als wahlloses Töten durch Bombenlegen. Die Reichen und die Besitzenden wurden zu Freiwild erklärt. Dies war für Tucker und seinen Kreis theoretisch, moralisch und taktisch gesehen unannehmbar. Obwohl die tatsächlich ausgeführten Attentate im Namen des Anarchismus sich dann – gemessen am Blutzoll, den andere politische oder religiöse Richtungen forderten – bescheiden ausnehmen, prägen sie das Image des Anarchismus bis heute, genau wie es Tucker damals befürchtete.

Eine Mittelstellung zwischen dem auf Josiah Warren zurückgehenden und durch Tucker ausformulierten individualistischen Anarchismus mit starken Wurzeln in der radikalliberalen amerikanischen Tradition und dem sozialrevolutionären Anarchismus der europäischen Immigranten nahm Voltairine de Cleyre (1866–1912) ein. Sie war Amerikanerin (ihre Eltern französische Immigranten, aber keine Anarchisten), wurde aber als junge Frau auf den Anarchismus aufmerksam durch den unfair geführten Prozess gegen eine Gruppe von anarchistischen Immigranten, denen ein Bombenattentat zur Last gelegt wurde. Innerhalb des anarchistischen Spektrums neigte sie schnell dem Kreis um Tucker zu, hielt aber auch enge Kontakte zu einigen Anarchisten europäischer Provenienz. Dem Kommunismus stand sie ablehnend gegenüber und hatte auch Einwände gegen dessen anarchistische Adaption. Zu der führenden Persönlichkeit der kommunistischen Anarchisten in Amerika, Emma Goldman (1869–1940), hatte sie ein eher distanziertes Verhältnis.

Vor allem bestand Voltairine de Cleyre darauf, dass die Idee des Anarchismus überhaupt keine konkrete Organisationsform von Wirtschaft und Gesellschaft beinhalte, sondern offen sei für alle Vorstellungen, die auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basierten. Dies nannte sie „Anarchismus ohne Adjektive“, der auch in Europa rezipiert (und unter anderem von dem italienischen Anarchisten Errico Malatesta aufgegriffen) wurde. Noch heute kann man in Foren der kommunistischen Anarchisten, die über eine gewisse Geschichtskenntnis verfügen, nachlesen, wie sehr sie Voltairine de Cleyres „Anarchismus ohne Adjektive“ immer noch in Unruhe versetzt, die sie empört wegdrücken. Mit dem „Anarchismus ohne Adjektive“ erneuerte Voltairine de Cleyre genau die Formulierung von Bakunins Freiheitsbegriff.

Mit Tuckers Erwachsenwerden der anarchistischen Theorie und mit Voltairine de Cleyres „Anarchismus ohne Adjektive“ ist für mich der klassische Anarchismus abgeschlossen. In der Folge nächste Woche wird es um die Niederlagen des Anarchismus als soziale Bewegung gehen. Doch die spielen in Europa, die Vereinigten Staaten werden dort nicht vorkommen, denn der klassische Anarchismus hatte hier bisher noch nie eine reale Chance, sich durchzusetzen. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war der Anarchismus auch in Amerika eine starke Bewegung, aber für eine reale Chance fehlte die kritische Masse. Die Versuche, eine anarchosyndikalistische Gewerkschaft nach europäischem Vorbild aufzubauen, die „International Workers of the World“ (IWW), deren Mitglieder aus unbekanntem Grund „Wobblies“ genannt wurden, scheiterte. Die IWW war auch nicht rein anarchistisch, sondern Tummelplatz für politische Kämpfe, bei denen auch (Staats-) Sozialisten und (Staats-) Kommunisten mitmischten.


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