Zeitgeschichte: Spaziergang durch Münster im Dezember 2023
Eine Momentaufnahme
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Die transformative Zeitenwende, in der wir leben, hat ihre Spuren wirkmächtig in die sonst stets beschauliche Stadt Münster geprägt. Ein vorweihnachtlicher Gang mitten durch die Stadt zeigt Bilder des beginnenden Niedergangs.
Der Reisende parkt sein Auto vor dem Amtsgericht auf einer Asphaltfläche, die sich inzwischen vom Regelbild der ebenen Fläche hin zu einer Art großflächiger, dreidimensionaler Jackson-Pollock-Installation verwandelt hat.
Der Fußweg zum Prinzipalmarkt führt vorbei an ergänzend pädagogisch beschilderten Fußgängerampeln („Vorbild sein, nur bei ‚Grün‘ gehen“) und dann entlang an wild beschmierten Garagentoren. Graffitis aller Farben und Formen sagen dem Passanten nichts und doch alles.
Der weitere Weg des Spaziergängers führt zu einem Kunstmuseum, das sich kraft grellen Aushängeschildes um Aufmerksamkeit bewirbt. Man verspricht, im Inneren des Gebäudes zu zeigen, was „nackt“ sei. Das überdimensionale Abbild eines Mannes, der sich mit beeindruckender Brustbehaarung lasziv aus einem Gemälde räkelt, eröffnet die beginnende Geschäftsmeile.
Den Eingang zur vormaligen Straße in das historische Viertel bewacht in Warnfarbe ein Dienstmann, der – Sicherheit verbreitend – zwischen stählerne Poller platziert ist, die die Geschäfte augenscheinlich vor potenziell heranrasenden Lastkraftwagen schützen sollen.
Der autofreie Bereich wird einerseits dominiert von älteren Passanten, die augenscheinlich schlicht die Tradition von Weihnachtseinkäufen aufrechterhalten wollen, und andererseits Nutzern diverser Lastenfahrräder, die sich im grauen Dezembertag über das Pflaster dem Nieselregen entgegenstemmen.
Obgleich der Heilige Abend mit seinen traditionellen familiären Bescherungen kurz bevorsteht, werben die Geschäfte schon jetzt mit rasanten Rabatten und robusten Preisabschlägen: „20 Prozent auf alles“ lassen die Ladeninhaber wissen. Offenbar herrscht breitere Kaufzurückhaltung.
In den beschaulichen historischen Arkaden vor den Schaufenstern sitzen in gehöriger Distanz zueinander bedauernswerte Menschen, die auf Pappschildern verkünden: „Hunger!“ In der Engstelle zwischen einem Bettler und einem Blumengeschäft höre ich eine Passantin zu ihrem Begleiter sagen: „Rote Linien sieht man selten.“
An einem Stehcafé scheint die Pandemie noch nicht beendet zu sein: „Sie sind mit Abstand die besten Kunden“ verlautet ein Plakat im Schaufenster. Man will nicht wissen, ob der Inhaber des Lokals an einen Fortbestand der Jahrtausendseuche glaubt oder ob er schlicht vergessen hat, das vor Jahren dort platzierte Plakat zu beseitigen. Vieles, was das Auge zu oft und zu lange sieht, verdrängt es bekanntermaßen schließlich aus dem eigenen Bewusstsein.
Zurück auf dem vom Künstler nicht lizensierten inoffiziellen dreidimensional ausgelegten Asphaltgemälde „Jackson Pollock MS 2023“ steigt der Passant in sein Auto und fährt mit dem Parkticket an den Ausgang. Dort immerhin sitzt – ein Überbleibsel der Zeitenwende – ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut. Gänzlich undigital und nicht automatisiert nennt er einen Preis, der in bar entrichtet werden darf.
Für Augenblicke keimt die glückliche Erinnerung an fröhliche Vergangenheiten auf. Wo sich nicht alles per App herunterladen lässt, finden sich Menschen, die freundlich sind und miteinander reden. Vorsichtig steuert der Tourist sein Fahrzeug zwischen den auch dort imposant aufragenden Stahlpollern auf die Straße. Früher war Münster eine reiche, glückliche, strahlende Stadt.
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