Deutschlands konservative „Volksparteien“: Droht der Union die Spaltung?
Die CDU präsentiert ihr neues Grundsatzprogramm
von Thomas Jahn
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Anders als in Frankreich, Italien oder den Niederlanden konnte in Deutschland im vielzitierten „bürgerlichen Lager“ eine Volkspartei ihre dominierende Stellung viele Jahrzehnte verteidigen. Gemeint sind die deutschen Unionsparteien CDU und CSU. Die deutsche Christdemokratie bewegte sich fast 60 Jahre hindurch bei bundesweiten Wahlergebnissen zwischen 40 und 50 Prozent der Wählerstimmen. Erst Merkel stoppte diesen Erfolgskurs. Bei ihrer letzten Kandidatur 2017 stürzte die Union auf 32,9 und mit ihrem Nachfolger Armin Laschet sogar auf 24,1 Prozent ab.
CDU und CSU starteten nach dem Zweiten Weltkrieg als neue überkonfessionelle Sammlungsparteien. Die auf Ludwig Erhards Politik zurückzuführenden großen Anfangserfolge der jungen Bundesrepublik und die stringente Außenpolitik Konrad Adenauers erweckten noch lange den Eindruck, als sei die Union eine homogene konservativ-freiheitlich ausgerichtete Partei. Das sozialdemokratische Ahlener Programm von 1947 mit dem Motto „Die CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ war längst vergessen. Auch nach dem Machtverlust 1969 deutete zunächst wenig auf Flügelkämpfe hin. Das änderte sich allerdings schon bald, denn 1973 übernahm Helmut Kohl nach dem Rücktritt von Rainer Barzel den Vorsitz der CDU. Um seine neue Position zu stärken und sich als Provinzpolitiker aus Rheinland-Pfalz die Kanzlerkandidatur für 1976 zu sichern, präsentierte er sich auch als „Modernisierer“. Viele Konservative, die sich heute auf Helmut Kohl berufen, wissen nicht mehr, dass es Kohl war, der anfangs dem linken Flügel in der CDU, 30 Jahre nach dem zum Glück vergessenen Ahlener Programm, zu einer Art Wiedergeburt verhalf. Er berief 1977 nicht nur den „Herz-Jesu-Marxisten“ und ehemaligen Jesuitenschüler Heiner Geißler zum Generalsekretär, sondern förderte anfangs auch die politische Karriere von Richard von Weizsäcker und berief als späterer Bundeskanzler Norbert Blüm und Rita Süssmuth in sein Kabinett, zwei etatistische Politiker mit einer lupenreinen sozialdemokratischen Agenda. Die CDU war daher schon in den 80er Jahren, im Gegensatz zu der bis 1988 von Franz Josef Strauß geführten Schwesterpartei CSU, eine in vielen wirtschafts- und gesellschaftsrechtlichen Fragen gespaltene Partei, die nicht erst Angela Merkel brauchte, um das Entstehen von bürgerlichen Konkurrenten zu begünstigen: 1989 konnte die ursprünglich von zwei CSU-Bundestagsabgeordneten gegründete Partei „Die Republikaner“ aufsehenerregende Erfolge bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und der Europawahl erzielen. Die Themen waren damals wie heute übrigens dieselben: ungelöste Migrationsprobleme. Die nach der „Wende“ 1982 nur halbherzig angepackten Reformen zur Bewältigung der Misswirtschaft der früheren SPD/FDP-Regierungen taten ein Übriges.
Zeitsprung ins Jahr 2000: Dass Angela Merkel damals zur neuen CDU-Vorsitzenden gewählt werden konnte, war deshalb kein Zufall. Die linken Seilschaften der Geißlers, Blüms und Süssmuths hatten sich ausgedehnt und für Nachwuchs gesorgt. Einer von Merkels eifrigsten Unterstützern, Armin Laschet, begann seine Karriere 1991 als Mitarbeiter der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Merkel ihrerseits sorgte sowohl bei der Auswahl ihrer Generalsekretäre als auch bei der Besetzung ihres Kabinetts dafür, dass kein einziger Konservativer zum Zuge kam. Als sie die Bundestagswahl 2009 eigentlich krachend verlor, aber mithilfe eines zweistelligen FDP-Ergebnisses Kanzlerin bleiben konnte, rückte sie die CDU mit ihrer „Berliner Erklärung“ weiter nach links. Der „Berliner Erklärung“ war eine Analyse der CDU-Führung zu den Ursachen des damals katastrophalen Unionsergebnisses bei der Bundestagswahl 2009 vorausgegangen. Ziel dieser Übung war natürlich die gezielte Verschleierung der wahren Ursachen. Ansonsten hätte die CDU mit Merkel mit ihrem linken Führungspersonal, von Ronald Pofalla über Hermann Gröhe bis hin zu Maria Böhmer, Annette Schavan und Ursula von der Leyen aufräumen müssen.
Wieder ein Sprung nach vorn: dieses Mal zu Friedrich Merz und seinem neuen Parteiprogramm, mit dem er die Ära Merkel hinter sich lassen möchte. Der Entwurf, den der CDU-Parteitag im Mai 2024 beschließen soll, trägt den verheißungsvollen Titel „In Freiheit leben – Deutschland sicher in die Zukunft führen“. Zentrale Punkte: ein neuer Kurs in der Asylpolitik samt Bekenntnis zur „deutschen Leitkultur“, einschneidende Reformen zur Rente und ein Comeback der Kernkraft. Gute und notwendige Programmansätze, die nur ein Problem haben: Wer soll sie wann und mit wem realisieren? Das neue Grundsatzprogramm dürfte also das Dilemma der CDU noch weiter verschärfen: Wie Merz bei seinen Kandidaturen 2018 und 2020 schmerzhaft erleben musste, stehen die Berufspolitiker und Funktionäre der CDU inzwischen mehrheitlich links. Die Genossen Günther und Wüst sind ein abschreckendes Beispiel dafür, dass sich die CDU personell dramatisch verändert hat. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird also noch größer, sollte die CDU ihre „Berliner Erklärung“ und die Programmatik der Merkel-Jahre über Bord werfen, ohne dazu das entsprechende Personal präsentieren zu können. Die wichtigste Währung der Politik heißt Glaubwürdigkeit, die nicht gerade dadurch gestärkt wird, dass die CDU ein konservativ-liberales Grundsatzprogramm beschließt, ihr konservativ-liberales Personal, allen voran Hans-Georg Maaßen, aber weiterhin aus der Partei ausschließen will und stattdessen weiterhin Linksauslegern wie Marco Wanderwitz mit seiner aberwitzigen Forderung nach einem AfD-Verbot eine Bühne bietet.
Zum Schwur dürfte es also spätestens im Herbst 2024 nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen kommen. Dann wird die CDU wohl die Wahl haben, ob sie eine „volksfrontartige“ Regierung aus SED, SPD und Grünen unterstützt oder die Brandmauer zur AfD endlich einreißt. Diese Koalitionsfrage, vor der sich Merz, Linnemann, Söder und Co nicht mehr wegducken können, wird ihre eigene Sprengkraft entfalten und ist dazu geeignet, die Sollbruchstellen der Union überdeutlich zu machen. Solange die Union bis 2013 Mehrheiten mit der FDP erreichen oder notfalls große Koalitionen anführen konnte, war es möglich, diese Sollbruchstellen zu übertünchen. Die Wähler haben nun eine Situation geschaffen, in der das nicht mehr geht. Und das ist auch ein Beitrag für mehr Ehrlichkeit und Realitätssinn, denn Mittelwege führen meistens in eine Sackgasse. Man ist weder halbschwanger, noch liebt man es lauwarm. Es gibt in der Politik nur die Wahl zwischen Freiheit oder Sozialismus und daher auch für die CDU nur zwischen links und rechts. An diesen Realitäten könnte die einstige Volkspartei scheitern und sich am Ende auch entzweien.
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