Freiheitsespresso XVIII: Ist der demokratische Nationalstaat am Ende?
Viele Herausforderungen, doch noch keine echten Alternativen
von Michael von Prollius (Beendet)
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„Ich stimme zu, dass wir heute eine schwere Krise der Demokratie erleben“, konstatierte Ralf Dahrendorf (1929–2009) zu Beginn seines Gesprächs mit dem italienischen Journalisten Antonio Polito. Das überaus anregende Gespräch wurde bereits vor über 20 Jahren unter dem Titel „Die Krisen der Demokratie“ als kleines Buch veröffentlicht und nimmt viele akute Probleme vorweg. Dahrendorfs letzter Satz darin lautet: „Nach dem Ende der Demokratie müssen und können wir eine neue Demokratie aufbauen.“
Tatsächlich sind Demokratie und Nationalstaat von verschiedenen Seiten unter Druck geraten:
Die Globalisierung ist ein jahrzehntewährender Trend, der nach den Vorläufern vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere seit den 1970er Jahren wirtschaftlich, politisch und informationell, aber auch kulturell zu einem Aufweichen von Grenzen geführt hat. Eine Reaktion darauf ist der zweite Teil dessen, was als Glokalisierung bezeichnet wird: die Lokalisierung, auch Regionalisierung. Dahrendorf sieht diese Entwicklung sehr kritisch, insbesondere wegen identitärer und homogenisierender Gefahren bis hin zu ethnischen Säuberungen.
Druck auf den demokratischen Nationalstaat üben zudem machtpolitische Entwicklungen aus. Dazu gehört der Aufstieg der Nichtregierungsorganisationen, die Verlagerung von Entscheidungsprozessen in globale Institutionen wie die Uno und WHO sowie in internationale Institutionen wie Nato und EU sowie die Entstehung einer globalen, teils kosmopolitischen Klasse. Einzelnen Personen mit Grenzen überschreitendem Einfluss, ob politisch, wirtschaftlich oder medial, wird ebenfalls Bedeutung zugemessen. Insbesondere in Europa haben die Nationalstaaten entscheidende politische Prozesse und Entscheidungen an die EU abgegeben, ohne dass diese bereits in allen politischen und rechtlichen Gebieten zuständig ist, etwa Verteidigung, innere Sicherheit, Bildung, Gesundheit. Ähnlich verhält es sich mit der Zentralisierung in den USA.
Das erscheint insofern paradox, als politische Zentralisierung auf gesellschaftliche Dezentralisierung trifft. Die Lebenswelt der Menschen differenziert sich zumindest in Teilen der Bevölkerung aus und überschreitet längst nationale Grenzen. Das gilt für Kultur, darunter Reisen, Literatur, Musik und Film, für Sport und das Interesse an anderen Sportarten als den etablierten, wie zum Beispiel American Football, ferner für eine prinzipiell entgrenzte Wissenschaft und außerdem für die Möglichkeit, alltäglich international zusammenzuarbeiten. Englisch hat als Sprache der Wissenschaft, Arbeit und Unterhaltung enorm an Bedeutung gewonnen und verbindet Menschen weltweit. Freihandel, Mobilität, Internet, internationale Produkte des alltäglichen Lebens sind Schlagworte, die keinen Nationalstaat erfordern. Hinzu kommt, dass regionale Unterschiede beträchtlich sind. Weder gibt es eine europäische Bevölkerung, noch fällt es leicht, genuin gemeinsame Interessen von Menschen im Allgäu und in Friesland zu identifizieren, die dringend eine einheitliche politische und rechtliche Regelung bedürfen und für die politischer Wettbewerb keine Alternative sein kann.
Auffällig ist indes, dass es parallel zum Bedeutungsverlust des Nationalstaats auch Nationalismus, Autoritarismus und fast durchweg überwiegend fest gefügte Nationalstaaten unter den 193 Staaten weltweit gibt. Separatismus ist ein gleichermaßen kontinuierliches wie sporadisches Phänomen. Demokratie kann weiterhin als die schlechteste Regierungsform außer allen anderen angesehen werden. Ein friedlicher Regierungswechsel, eine Kontrolle der Mächtigen und zumindest eine Beteiligung von Bürgern an der politischen Machtausübung gelingen bisher nicht in alternativen Formen einer Res publica, Liechtenstein ausgenommen. Wichtiger wird, durchaus auch von Ralf Dahrendorf so gesehen, die „Herrschaft“ des Rechts.
Gibt es echte Alternativen zum Nationalstaat? Anhaltspunkte kann die Geschichte bieten. Für Deutschland war der Nationalstaat eine Ausnahme und keineswegs alternativlos. Mehr dazu im nächsten Freiheitsespresso.
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