Geschichte des Anarchismus – Teil 7: Du hast keine Chance. Nutze sie.
Die Niederlagen des klassischen Anarchismus
von Stefan Blankertz
Wenn in der heutigen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts der Anarchismus überhaupt erwähnt wird, so als eine marginale Erscheinung. Die relevanten Auseinandersetzungen fanden, laut dieser Geschichtsschreibung, zwischen Demokratie (Liberalismus), Faschismus (Nationalismus) und Kommunismus (Marxismus) statt. Die Sieger haben die Geschichtsschreibung stets auf ihrer Seite.
Allerdings wird meist unumwunden zugegeben, dass die Bolschewisten (Kommunisten) in der Russischen Revolution 1917 nur eine verschwindend kleine Minderheit darstellten. Nur waren sie gewaltbereiter und skrupelloser als alle anderen Kräfte und hatten mit Lenin einen genialen Strategen an der Spitze. Dass in Italien unter den Antifaschisten der 1920er Jahre die nach Moskau orientierten Kommunisten kaum eine Rolle spielten, sondern vor allem die Anarchisten und dass im Spanischen Bürgerkrieg ab 1936 Anarchisten das Hauptkontingent der Kämpfer stellten, liest man dagegen sehr viel seltener.
Vor 1917 übte der Marxismus nennenswerten Einfluss nur in Deutschland aus (nämlich auf die reformistische Sozialdemokratie). Danach nahm er zwar zu, weil die Kommunisten nun auf eine erfolgreich durchgeführte Revolution und auf ein damit gewonnenes Heimatland verweisen konnten, aber die Hungersnöte der 1920er und 1930er Jahre in Russland waren keine Werbung, die Brutalität der Bolschewisten bei der Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs schreckte ab. Die (anarcho-) syndikalistischen Gewerkschaften, die in den romanischen Ländern Europas dominierten, erkannten schnell, dass für sie im Weltbild der Lenins, Trotzkis und Stalins kein Platz war. Die heute leider wieder zunehmenden Sympathisanten der Bolschewisten schieben die Tatsache, dass der Kommunismus sich europaweit nicht durch Revolution (sondern erst im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und der Okkupation Osteuropas durch die UdSSR) verbreitet habe, auf bürgerliche und faschistische Propaganda. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die bürgerliche und faschistische Propaganda konnte nur darum Erfolg haben, weil die Russische Revolution nicht so glänzte, wie es ihre Getreuen gern gehabt hätten. Unter den europäischen Anarchisten gab es nach 1917 durchaus eine Diskussion, ob eine gemeinsame Sache mit den Bolschewisten zu machen wäre. Doch angesichts der in Russland zunehmenden Repression wurden diejenigen, die dies befürworteten, immer weniger.
Ein Wort zu den (anarcho-) syndikalistischen Gewerkschaften, die ich bisher noch nicht behandelt habe. Der Syndikalismus stellte eine Theorie dar, die zunächst unabhängig vom Anarchismus entstand. Während die sozialdemokratischen, also reformistischen Gewerkschaften einerseits in ökonomischen Auseinandersetzungen (Streiks) mit Arbeitgebern Verbesserungen des Lohns und der Arbeitsbedingungen sowie eine Verkürzung der Arbeitszeit erreichen und andererseits Einfluss auf die Politik nehmen wollten, formulierte der Syndikalismus das Ziel, den Staat in einem Akt der Revolution (durch einen Generalstreik) zu ersetzen. Innerhalb des Syndikalismus blieb es stets unklar, ob die Syndikate (Gewerkschaften) einen neuen Staat formieren und die Wirtschaft zentral verwalten oder ob sie jeweils als freiwillige Vereine Autonomie besitzen würden. Die erste Variante fusionierte mit faschistischen Ideen zum Konzept des korporatistischen Staats, die zweite Variante mit anarchistischen Ideen zum Anarchosyndikalismus. Für ein Zusammengehen mit den Bolschewisten neigten die Syndikalisten wenig, weil in der Vorstellung Lenins die Gewerkschaften nur ausführende Organe der Partei sein sollten.
Das Gebiet, in dem die Anarchisten nach 1917 die erste Chance auf eine eigne Heimstätte gehabt hätten, war die heutige Ostukraine. In ihr setzten sich zunächst nicht die Bolschewisten durch, sondern die anarchistischen Bauernrebellen unter der Führung von Nestor Machno. Während des Kampfes gegen die konterrevolutionären Weißen (Anhänger des Zarismus) tolerierte die Rote Armee die Machno-Leute, doch nach dem Sieg startete sie unter der Führung von Leo Trotzki einen Vernichtungsfeldzug, der an Brutalität seinesgleichen sucht. Jede Behauptung, Trotzki sei auch nur einen Hauch humanistischer als Stalin gewesen, scheitert angesichts seines Vernichtungsfeldzugs gegen die Machno-Leute. Machno ging 1921 ins Exil, die letzten seiner Leute wurden 1922 liquidiert.
Dieser Vernichtungsfeldzug gegen die Machno-Leute gehört, nebenbei bemerkt, zur Vorgeschichte des heutigen Kriegs in der Ukraine, die freilich (soweit ich gelesen habe) keine Erwähnung findet. Zum einen betrieb Stalin in den betroffenen Gebieten eine massive Russifizierungspolitik, um jedes Wiederaufflackern des Anarchismus zu unterbinden. Seine Wut darauf, dass die Ukrainer sich dem Diktat der Bolschewisten so lange entzogen hatten, ist auch einer der Gründe für den Holodomor, die Vernichtung weiter Kreise der Bevölkerung durch eine politisch induzierte Hungersnot. Als Nikita Chruschtschow Stalins Nachfolger wurde, schenkte er, der selber seine Jugend in der Ukraine verbracht hatte, der Ukrainischen Sowjetrepublik als Wiedergutmachung geschichtswidrig die Krim – wie Diktatoren eben Gebiete und Menschen wie Schachfiguren meinen herumschieben zu dürfen.
Es ist sicherlich eine unrealistische Annahme, dass die, gemessen an der Roten Armee, kleine Gruppe der Machno-Leute, die außerdem unzureichend ausgerüstet war, militärisch hätte obsiegen können. Gleichwohl lag es im Rahmen der Möglichkeiten, dass Lenin die Schlächterei Trotzkis stoppt, nicht, weil er Humanist gewesen wäre oder Sympathie für die Anarchisten gehabt hätte, sondern aus rein machtrationalem Kalkül. Auf diese Weise hätte die Hungersnot Anfang der 1920er Jahre vermieden oder doch zumindest erheblich abgemildert werden können.
Unmittelbar an die Niederlage in der Ukraine schloss sich diejenige in Italien an. Die Hungersnot in Russland schürte im übrigen Europa, zusammen mit der Repression gegen Andersdenkende, die Angst vor dem Bolschewismus. Das begünstigte den Erfolg des italienischen Faschismus. Der Führer der italienischen Faschisten, Benito Mussolini, hatte eine geniale strategische Idee: Er kombinierte die Versprechen der Kommunisten auf soziale Umwälzung mit dem Versprechen an die bürgerlichen Kräfte, die bestehenden Verhältnisse unverändert zu lassen. Außerdem integrierte er die Syndikalisten, indem er den Gewerkschaften sowie weiteren sozialen Organisationen die Beteiligung an der Macht in Aussicht stellte.
Die führende Persönlichkeit der italienischen Anarchisten, Errico Malatesta, entschied sich ausdrücklich gegen jeden Rückgriff auf die leninistischen Taktiken. Lieber verzichtete er auf den Sieg, als Mittel des Terrors gegen die Bevölkerung einzusetzen. Dies ist ein moralisch ehrenwerter Standpunkt. Aber wenn man es mit Gegnern zu tun hat, die keinerlei Skrupel beim Einsatz von Gewalt haben wie die Kommunisten und die Faschisten, ist man zum Untergang verdammt.
Spekulationen über einen möglichen anderen Geschichtsverlauf sind immer heikel. Dennoch liegt es nahe anzunehmen, dass es in Italien anders gekommen wäre, hätte es in der Ukraine eine anarchistische Region gegeben. Die Niederlage in der Ukraine hatte die italienischen Anarchisten demoralisiert. Sie konnten der Bevölkerung auch keine real existierende Alternative aufzeigen.
Fünfzehn Jahre später brach nach dem Putsch des faschistischen Generals Franco der Spanische Bürgerkrieg aus. Francos Gegner werden heute meist verallgemeinert als „die Republikaner“ bezeichnet. Sie bestanden aus Republikanern (Sozialdemokraten) sowie, in den Regionen Katalonien und Andalusien, Anarchisten. Die moskauorientierten Kommunisten – in Russland regierte inzwischen Josef Stalin – und die Trotzkisten – Trotzki war inzwischen in Ungnade gefallen und befand sich im Exil – waren zunächst eher von untergeordneter militärischer Bedeutung. Die westlichen Demokratien erklärten sich für neutral, während das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland massiv auf der Seite Francos eingriffen. Der einzige Staat, der die republikanische Seite spärlich mit Waffen belieferte, war Stalins Russland. Damit wurden die spanischen Kommunisten in die Position von Monopolisten versetzt. Auf Geheiß Stalins bemühten sich die Kommunisten vor allem darum, die Anarchisten und die Trotzkisten zurückzudrängen; der Sieg über Franco war zweitrangig. Bekannt ist noch das Zeugnis von George Orwell, zu dem Zeitpunkt Trotzkist, der von den innerrepublikanischen Kämpfen in dem Buch „Mein Katalonien“ berichtet. Stalinisten hatten ihn, der freiwillig auf der Seite der Republik gegen Franco kämpfen wollte, eingekerkert.
Auch hier ist wieder die Frage, inwieweit es eine realistische Spekulation über einen möglichen anderen Verlauf geben kann. Sicherlich hat die zweite Front, die die Stalinisten aufmachten, zur Niederlage gegen Franco beigetragen. Ob ein Sieg der Republik ohne diese zweite Front möglich gewesen wäre, steht dahin. Wie dem auch sei, der Gedanke, dass Stalin anders hätte agieren können, ist abwegig. Sein primäres Ziel war die Ausschaltung von Anarchisten und Trotzkisten. Ob in Spanien Franco siegt oder nicht, das war ihm völlig egal, denn Franco stellte nach seiner Kalkulation keine Bedrohung für die Existenz der UdSSR dar.
Was meines Erachtens dennoch sehr wohl eine Denkmöglichkeit abgibt, ist die Überlegung, ob ein anderer Verlauf dann hätte eintreten können, wenn die Ukraine anarchistisch geblieben und Italien darauffolgend nicht faschistisch geworden wäre. Eine anarchistische Ukraine hätte die anarchistische Bewegung überall in Europa beflügelt; und ohne ein faschistisches Italien hätte Franco die wichtigste ausländische Unterstützung gefehlt. Deutschland griff nur mit der Luftwaffe ein, Italien schickte Zehntausende an Bodentruppen und schweres Kriegsgerät.
Als ein Nachzügler in dem Reigen der Niederlagen des Anarchismus sei noch Israel genannt. Innerhalb des Zionismus gab es eine etatistische (sozialdemokratische und nationalistische) und eine anarchistische Fraktion. Der Vordenker der anarchistischen Fraktion war der deutsche Philosoph Martin Buber (1878–1965). Er wollte ein anderes Israel, als es 1947 konstituiert wurde, eine Föderation aus freiwilligen Gemeinschaften ohne religiöse oder ethnische Grenzen. Wie anders sähe die Welt heute aus, wenn er sich hätte durchsetzen können!
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