Falsche Freunde – Teil 1: Einigkeit und Recht und Freiheit?
Liberalismus und Nationalismus
von Stefan Blankertz
Die Faustregel eines jeden Kampfes lautet, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei. In der politisch-militärischen Landschaft führt dies zu den unsinnigsten Kombinationen. Im Englischen spricht man merkwürdig sexualisiert davon, sich mit jemanden ins Bett zu legen: „Politics make strange bed fellows.“ Man könnte auch sagen: … bad fellows. Meist sind dies kurzfristige Zusammenschlüsse, die dann nach gewonnener oder verlorener Schlacht in die alte Feindschaft münden. Doch in manchen Fällen kommt es zu einer längerfristigen oder gar langfristigen Gemeinsamkeit. Um im englischen Bild zu bleiben: Es kommt zu einem (monogamen?) Eheschluss.
Wenn ich in dieser Serie einige „Ehen“ betrachte, die Freiheitsfreunde im Laufe der letzten 200 Jahre eingegangen sind, dann nicht, um zu sagen, die Partnerwahl sei ein moralischer oder strategischer Fehler gewesen, sondern um zu untersuchen, wie es dazu gekommen ist und welche Auswirkungen sie im Kampf um die Freiheit gehabt hat.
Dieser Kampf um die Freiheit in Europa richtete sich zunächst gegen Thron und Altar. Die Monarchen und Fürsten beherrschten Territorien ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu Sprach- und Kulturräumen. Die katholische Kirche stand in Konkurrenz zu den weltlichen Mächten und war noch zentralistischer verfasst als diese. Die evangelischen Kirchen verbanden sich so innig mit den jeweiligen Fürsten und Monarchen, dass sie zumeist keine eigenständigen Machtzentren bildeten (ausgenommen der Puritanismus in England und Nordamerika vor dem Zeitraum, den ich hier betrachte).
Der Impuls, nach Freiheit zu streben, drückte sich zum einen auf der Ebene des Anspruchs der Einzelnen auf wirtschaftliche und moralische Unabhängigkeit aus und zum anderen auf der Ebene dessen, was Selbstbestimmung der Völker genannt wird. Ein Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen war nicht offensichtlich, beide standen im Widerspruch zu Thron und Altar. Aber wie stehen sie zueinander?
„Einigkeit und Recht und Freiheit“, der Slogan aus der deutschen bürgerlichen Revolution, suggeriert, dass der nationale und der liberale Impuls des Freiheitsstrebens harmonisch zueinanderstehen. Schnell zeigt sich jedoch, dass dem so nicht ist. Freiheit bedarf es nur, wenn keine Einigkeit besteht. Solange Einigkeit besteht (und nicht herrscht), gibt es gar keine Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit. „Einigkeit“ bezieht sich in diesem Slogan auf „das deutsche Vaterland“. Aber wer gehört zum deutschen Vaterland? Nicht nur ist das, was sich dann in geschichtlich-militärischer Wirklichkeit als Deutschland konstituiert hat, beileibe nicht durch die Sprache (oder andere historische Gegebenheiten) definiert, sondern auch innerhalb des Gebiets ist es durchaus fraglich, inwieweit etwa das Rheinland und Bayern zu einem von Preußen dominierten Deutschland gehören wollten. Anfang des 20. Jahrhunderts ätzte der nationalromantische Anarchist Gustav Landauer, wenn man auf der Landkarte Deutschland anschaue, sei die Küste die einzige Grenze, die Sinn mache. Einheit besteht nicht, sie herrscht: Sie wird mit militärischer Gewalt durchgesetzt.
In seiner genialen Skizze der liberalen Idee mit dem schlichten Titel „Liberalismus“ proklamierte Ludwig von Mises 1927 ein universelles und bedingungsloses Sezessionsrecht jeder Region bis hin zu einem Dorf oder Stadtteil (auf die dunkle Seite dieser Skizze gehe ich in Teil 4 der Serie ein): Universell und bedingungslos bedeuten, dass das Recht auf Sezession nicht auf geschichtliche oder sprachliche Grenzen begrenzt ist. Einzige Voraussetzung ist laut Mises der (mehrheitliche) Wille in der Region, nicht mehr zu dem angestammten Staat zu gehören, sondern selbständig zu sein oder sich einem anderen existierenden Staat anzuschließen. Damit schließt Mises zugleich aus, dass ein Staat auf das Gebiet eines anderen Staats Anspruch haben könne, wenn die dort lebende Mehrheit nicht ausdrücklich wünsche, sich ihm anzuschließen. Nur so ließen sich Kriege, Revolutionen und andere interne Kämpfe vermeiden, meinte Mises.
Eine größere Entfernung vom Nationalismus als diese Ansicht ist nicht denkbar. Doch sie nahm im liberalen Spektrum eine Außenseiterposition ein. Mises leitete seine Ansicht darüber, was den Liberalismus ausmache, aus einer streng logisch konstruierten Ideengeschichte, nicht aus der geschichtlichen Praxis ab. Bis heute prägt die Vermischung von Liberalismus und Nationalismus das Bild des Liberalismus in Europa.
In den USA nahm die Entwicklung einen anderen Verlauf. Die demokratische Partei war über das ganze 19. Jahrhundert hinweg liberal, fast in dem Sinne, den Ludwig von Mises skizziert hat. Fast. Denn hier bestand die unheilvolle Allianz (um nicht zu sagen: Ehe) zwischen Liberalismus (in den Nordstaaten) und Sklavenhaltern (in den Südstaaten). Die republikanische Partei war zentralistisch, protektionistisch und sozialstaatlich ausgerichtet. Durch eine der unerfindlichen Volten des Weltgeistes tauschten die beiden Parteien in den 1930er Jahren die Seiten: Die republikanische Partei bremste (vorsichtig) Zentralisierung, Protektionismus und den Ausbau des Sozialstaats, während die demokratische Partei das zentralistische, protektionistische und sozialstaatliche Programm übernahm. An keinem Datum ist das deutlicher abzulesen als an den beiden (miteinander nicht verwandten) Präsidenten mit dem Namen Roosevelt, die jeweils dem kriegerischen Sozialstaat einen großen Schub gaben. Theodore Roosevelt (Präsident von 1900–1908) gehörte der republikanischen, Franklin Delano Roosevelt (Präsident von 1933–1945) der demokratischen Partei an. Infolgedessen bedeutet in den USA „konservativ“ heute „liberal“ und „liberal“ bedeutet „sozialdemokratisch“ und „links“, wenn wir die europäischen Begriffe zugrunde legen. Aufgrund der Orientierung Europas an der nordamerikanischen Kultur wird allerdings zunehmend das Adjektiv „liberal“ und manchmal auch schon das Substantiv „Liberalismus“ im Sinne der politischen Landschaft der USA gebraucht, obwohl andererseits „Liberalismus“ zugleich weiterhin dem Reich des bösen „Rechts“ zugeordnet wird.
Wie dem auch sei, anders als die historische europäische Allianz zwischen Liberalismus und Nationalismus deutet die Begriffsentwicklung in den USA keine wie auch immer befremdliche „Ehe“ an, sondern sie ist schlicht ein Austausch der Bedeutung. Dieser Bedeutungsaustausch geht auf die Logik der Parteientwicklung zurück und nicht darauf, dass Kräfte mit unterschiedlichem ideengeschichtlichem Hintergrund miteinander koalieren.
Dieser erste Blick auf befremdliche Allianzen zeigt bereits, wie sich eine Spannung auftut zwischen der reinen Idee und dem Wunsch nach politischer Wirksamkeit. Die Präsentation der reinen Idee, die Ludwig von Mises vorlegte, ist zunächst politisch unwirksam geblieben; und als sie in den USA via des Libertarismus wirksam wurde, stellte sich sofort die Frage der Allianzen (darauf werde ich am Ende der Serie eingehen). Die Frage ist nicht, ob, sondern welche Allianzen eingegangen werden können, damit die Freiheit eine Chance erhält: Diese Aufgabe ist noch ungelöst.
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