Macht und Widerstand: Der Vorläufer der Bauernkriege
Warum die mehr als 500 Jahre alte Geschichte von Hans Böhm noch heute aktuell ist
von Oliver Gorus
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Hans war ein Waisenkind. Seine Eltern waren während der Hussitenkriege im 15. Jahrhundert aus Böhmen vertrieben worden, weshalb Hans im Frankenland aufwuchs und den Nachnamen Böhm trug. Als recht- und besitzloser Bub musste er sich als Hütejunge verdingen, um sich durchzuschlagen. Dabei kam er viel herum, schnappte auf, was die Leute so reden, und hatte reichlich Zeit zum Nachdenken. Er hörte viel von der Not der Bauern, die unter den horrenden Abgaben an die habgierigen Fürsten und Geistlichen sowie unter der Willkür der Rechtsprechung litten.
A Star Is Born
Als er etwa 18 Jahre alt war, erschien ihm kurz nach Fasnacht im Jahr 1476 in seinem nächtlichen Lager auf der Weide im Traum die Jungfrau Maria. Sie forderte ihn auf, vor ihrer kleinen Kirche in Niklashausen die Menschen zur Buße aufzurufen, und sie versprach, dass alle, die nach Niklashausen kämen, sofort und kurzerhand den Ablass von ihren Sünden erhielten.
Eine unerhörte Idee! Denn für den Ablass von den Sünden war doch die kirchliche Obrigkeit zuständig! Die kann man doch nicht einfach umgehen! Wo kämen wir denn da hin, wenn die Menschen mit ihren Sünden einfach selber klarkämen und dazu den Adel und den Klerus gar nicht mehr bräuchten? Hätte es damals den öffentlich-rechtlichen Zwangsfunk gegeben, er hätte diese Idee, vor der Marienkirche zu predigen und Ablass zu erteilen, noch vorab als „staatsfeindlich” und „rechts unterwandert” verurteilt und die Bauern aufgefordert, sich von Hans zu distanzieren.
Hans aber tat, wie ihm geheißen. Er stellte sich vor die kleine Kirche in Niklashausen und begann zu predigen. Damit hatte er offensichtlich seine Berufung entdeckt, denn er konnte als Analphabet zwar die Bibel nicht lesen, aber er konnte phantastisch gut reden. Die Leute glaubten ihm, sie hingen ihm förmlich an den Lippen und seine Reden verbreiteten sich wie ein Lauffeuer: In nur wenigen Wochen pilgerten Tausende zu ihm nach Niklashausen, und er predigte und predigte.
Um die kleine Marienkirche entstand ein Feldlager, in dem im Laufe des Frühjahres bis zu 40.000 Menschen versammelt waren, vor allem Bauern. Sie pilgerten dorthin nicht nur aus dem Frankenland, sondern von weither, aus Bayern, Schwaben, Thüringen, aus dem Rheinland und aus dem Elsass.
Das anarchistische Programm
Hans war in kürzester Zeit ein echter Influencer geworden. Er sprach ein brennendes Bedürfnis an und hatte riesigen Erfolg, die Leute brachten sogar viele Opfergaben mit, die sich in der kleinen Kirche auftürmten. Im Frühling ging er mangels einer Bühne dazu über, aus den Dachfenstern von Häusern zu den Menschenmassen zu predigen.
Inhaltlich sprach Hans neben seiner Erzählung von der Marienerscheinung vor allem vier Punkte an, die heute als anarchistisch angesehen würden: Erstens versprach er die baldige Bestrafung der Adeligen und der Geistlichen für ihre Habgier durch ein furchtbares Strafgericht Gottes. Damit traf er den Zorn und die Sehnsüchte der Bauern zielgenau: Endlich würden die Tyrannen zur Rechenschaft gezogen!
Zweitens verkündete er, dass jeder, also wirklich jeder seinen Lebensunterhalt selbst verdienen solle, durch ehrliche Arbeit und nicht durch das Knechten anderer. Jeder solle selbst und freiwillig mit Bedürftigen teilen. Parasitäre Lebensentwürfe, die mit Zwang und Gewalt von der Arbeitskraft und den Lebensjahren der Unterjochten profitierten, wären abgeschafft, alle Menschen wären vor dem Gesetz gleich. Das klingt noch heute wie Musik in den Ohren jedes Freiheitlichen.
Drittens sollten die Stände abgeschafft werden und damit auch alle Frondienste und Zwangsabgaben. Der Libertäre von heute nickt und flüstert leise: Steuern sind Raub!
Viertens: Sämtliches Eigentum an Feldern, Wiesen, Weiden, Wäldern und Gewässern sollten Allmende werden, also jedem gehören. Nun, letzterer Punkt klingt zwar erst mal kommunistisch, aber da all diese Besitztümer ja bis dato den auf Kosten des dritten Standes lebenden Adligen und Geistlichen gehörten, umfasste dieser Programmpunkt schlicht die Enteignung der Enteigner.
Dieses anarchistische Manifest war derart unerhört und gleichzeitig so logisch, eingängig und wohltuend für die geschundenen Seelen der Bauern, dass der Erfolg des jungen Hans’ gar kein Wunder war.
Methoden des Machterhalts
Den Fürsten und den Bischöfen gefiel das alles selbstverständlich so gar nicht. Sie hatten diese informelle Wallfahrt schließlich weder angeordnet noch erlaubt! Und die Inhalte stellten ihre komplette Existenz infrage.
Also machten sie, was Herrscher so machen: Zuerst stellten sie den Hans zur Rede. Der bischöfliche Rat und der Domprediger zu Würzburg suchten den jungen Hans in Niklashausen auf und vernahmen ihn. Man muss sich das wohl wie eine Art Gefährderansprache vorstellen: also böser Blick, fuchtelnder Zeigefinder und einschüchternde Drohgebärden. Aber Hans blieb völlig unbeeindruckt.
Dann wurden V-Leute losgeschickt, die sich unter die Menge mischten und den jungen Hans als Scharlatan diffamieren sollten. In den Social Media nennt man solche vom Staat bezahlten Denunzianten heute „Trolle”, ein so nerviges wie allgegenwärtiges, für die Akteure des Staats und ihre willigen Helfer mehr als peinliches Phänomen. Der junge Starprediger Hans trat vor der Kirche zu mehreren Rededuellen mit den Trollen an und natürlich konnten sie ihm rhetorisch nicht das Wasser reichen. Die Menge lachte sie aus und sie flohen unter Hohn und Spott zurück zu ihrem Bischof.
Nun wurde an der Gewaltspirale gedreht, wie wir es aus der langen Menschheitsgeschichte nur allzu gut kennen. Die Wallfahrt zu Hans nach Niklashausen war zwar ein vollkommen friedliches Ereignis, aber die Fürsten und Kleriker begannen, den Bauern einen gewaltsamen Aufruhr und Umsturzpläne zu unterstellen. Der Domherr zu Würzburg ließ gezielt das komplett aus der Luft gegriffene Gerücht verbreiten, bewaffnete Bauernheere aus der Schweiz würden nach Franken ziehen und zusammen mit den Niklashäuser Bauern einen kriegerischen Aufstand planen.
Gewaltspirale
Den Bauern wurde der Aufenthalt in Niklashausen von den Fürsten unter Androhung von Gewalt untersagt. Politiker heute würden das „notwendige Freiheitseinschränkungen” nennen. Aber die Bauern ignorierten die Drohungen und blieben. Warum auch nicht, sie verstießen ja gegen niemandes Recht und gegen keine Sitte.
Weiter ging es mit dem Drehen an der Gewaltspirale: Provokateure und Spitzel wurden entsandt, um die Bauern einerseits zu Gewalttaten anzustacheln und so einen Grund für eine Niederschlagung zu liefern und andererseits Belastungsmaterial für eine Verhaftung des unbequemen Hans’ zu besorgen.
Die Spitzel lieferten die bestellten Argumente und schließlich wurde in der Nacht zum 13. Juli 1476 der vollkommen unschuldige Hans Böhm aus dem Schlaf gerissen, gefesselt und geknebelt und von 34 bischöflichen Reitern nach Würzburg entführt und eingekerkert.
Irgendwie erfuhren die Wallfahrer am Morgen davon, dass Hans nach Würzburg gebracht worden war. Eine große Menge von etwa 16.000 Männern, Frauen und Kindern machte sich noch am gleichen Abend auf den Weg und zog christliche Lieder singend und Kerzen tragend nach Würzburg, wo sie am nächsten Morgen vor dem Schloss ankam. Das muss ähnlich beeindruckend gewesen sein wie ein paar Tausend Traktoren mit gelben Blinklichtern im Berlin des Jahres 2024.
Der Hofmarschall wollte verhindern, dass die Bürger von Würzburg den Aufmarsch mitbekamen, und schickte den unbewaffneten Bauern bewaffnete Reiter entgegen, die die Brücke über den Main versperrten und den Zug stoppten.
Das Gewaltmonopol am Werk
Die Bauern bestimmten ein paar Wortführer, die die Herausgabe des jungen Hans’ forderten. Der Fürst verweigerte das und forderte stattdessen Gehorsam und die Rückkehr der Bauern nach Hause. „Sie haben sich verrannt! Kehren Sie um!“, sagen heutige Politiker in solchen Fällen.
Da die Bauern nach wie vor friedlich gestimmt waren und im Moment keine Chance sahen, ihren Hans freizubekommen, zogen sie sich erst mal unentschlossen in kleineren Gruppen zurück.
Doch dann kam es, wie es kommen musste: Der Fürst ließ mit Kanonen vom Schloss herunter auf die abziehenden unbewaffneten und friedlichen Bauern schießen. Die Menge stob in Panik auseinander. Es gab mehrere Tote und viele Verletzte. Der Bischof schickte Reiter aus, um die fliehenden Bauern zu jagen, Dutzende wurden auf der Flucht erschlagen, etliche verletzt. Mehrere Hundert Bauern wurden festgenommen und verschleppt.
Um die Würzburger Bürger still und desinformiert zu halten, wurde ihnen das Narrativ vorgesetzt, der Aufruhr sei Teufelswerk gewesen, der Diener des Teufels sei aber gefasst worden. Auch diese Kommunikationsstrategie klingt heute merkwürdig vertraut. Herrscher versuchen bis heute immer, die Nachrichtenmedien in Staatshand und unter Kontrolle zu behalten.
Aus den gefangenen Bauern wurden willkürlich zwei herausgegriffen und zusammen mit dem völlig verschreckten Hans zur Richtstätte geführt. Sie zwangen ihn zuzusehen, wie den beiden Bauern die Köpfe abgeschlagen wurden. Dann schafften sie ihn auf den Scheiterhaufen und verbrannten ihn. Er soll noch in den Flammen Marienlieder gesungen haben …
Die Geschichte des freiheitlichen Widerstands
Dann galt es noch, alle Spuren des Unrechts zu verwischen und zu verhindern, dass Hans zum Märtyrer wurde. Die Würzburger Herrscher strickten eine regelrechte Desinformationskampagne, verbreiteten Flugblätter, die Hans Böhm lächerlich machten, gaben eine Ballade in Auftrag, die den Jungen verhöhnte und verteufelte, und ließen diese gedruckten und gesungenen Lügen verbreiten. Heute sind derartige Inhalte zum Framing der Wirklichkeit im Internet unter der Rubrik „Faktenchecker“ und in den Fernsehnachrichten als „Kommentar“ bekannt.
Die Niklashauser Kirche ließ der Mainzer Erzbischof abreißen, die dort gesammelten Opfergaben nahm er sich einfach und finanzierte damit eine neue Brücke und Renovierungsarbeiten an seiner Residenz. „Nimm das Recht weg – was ist dann der Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“, hatte der Kirchenvater Augustinus von Hippo mehr als 1.000 Jahre zuvor gefragt.
Diese Geschichte um die Wallfahrt zum anarchistischen Hans macht deutlich, wie es um die Machtverhältnisse, insbesondere um die Begrenzung von Macht im 15. Jahrhundert stand. Sie erklärt, warum einige Jahrzehnte später, im Jahr 1524, die Bauernkriege unweigerlich losbrechen mussten. Sie zeigt ein frühes Muster aller folgenden Aufstände und Revolten, aller Freiheitskämpfe der letzten 500 Jahre bis heute.
Als einige Jahrzehnte später die Bundschuh-Bewegung und dann die Bauernkriege losbrachen, berief sich keiner der Bauernführer auf ihren Vorläufer Hans von Niklashausen, denn die niederträchtigen Kampagnen der Herrscher zur Zerstörung des Ansehens des jungen Laienpredigers waren erfolgreich gewesen … jedenfalls zunächst.
Aber weder die Wahrheit noch die Freiheit lassen sich auf Dauer aufhalten! Die wahre Geschichte um das Drama zu Niklashausen wurde im 19. Jahrhundert rekonstruiert und aufgeklärt.
Die Bischöfe und Adeligen haben ihre Macht im Laufe der Zeit restlos verloren. Die Strukturen aber blieben im Wesentlichen die gleichen. Die Fürsten von heute sind die Politiker, der Adel von heute sind die Parteien, und die räuberische Kirche von heute wird durch das klimareligiöse Glaubensbekenntnis gebildet. Der Ablasshandel heißt heute Energiewende.
Die Propaganda und die Maßnahmen zum Machterhalt funktionieren heute noch genauso wie damals. Die Herrscher monopolisieren noch immer das Recht und die Gewalt. Das Ausplündern des Volks durch die Herrscher ist noch immer das gleiche Spiel und wird auch heute noch mal sanfter und mal mit härteren Bandagen gespielt. Damals drückte der Zehnte, heute drückt die Staatsquote von über 50 Prozent.
Damals lebten Klerus und Adel parasitär von der Lebensarbeit des Dritten Stands, heute leben Politiker, Amtsträger, Behörden, Staatsbedienstete, staatsfinanzierte „Nichtregierungsorganisationen“ und der öffentlich-rechtliche Rundfunk von den Steuereinnahmen und Abgaben, die für die herrschenden Gruppierungen nichts anderes sind als ein bedingungsloses Grundeinkommen, das private Unternehmen und die Nettosteuerzahler als moderne Leibeigene unter Zwang erwirtschaften.
Und die Bauern? Die kämpfen gerade wieder um ihre Freiheit. Wenn sie aus der Geschichte gelernt haben, nehmen sie jeden Schritt und jedes Wort per Handyvideo auf …
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