Weltliteratur: Der verlassene Weg
80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 2)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
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Hayek beginnt seine Beweisführung zur Freiheitszerstörung durch den Sozialismus im ersten Kapitel seines Buches mit einer geistes- und wirtschaftshistorischen Lagebeurteilung. Er vergleicht die wirtschaftliche Situation des Arbeiters zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der eines Arbeiters 100 Jahre zuvor.
Die unbestreitbaren Wohlstandszuwächse dieses Zeitraumes in den Haushalten einfacher Arbeiter müssen eine Ursache haben. Die gelte es zu erfassen und zu umschreiben. Hayek verortet die Ursache dieses Prosperierens entscheidend in der Möglichkeit, während dieser Periode – anders als zuvor – individuell frei handeln gekonnt zu haben. „Das Wort Individualismus hat heute einen schlechten Klang, denn man bringt den Ausdruck in Zusammenhang mit Eigennutz und Selbstsucht. Aber Individualismus braucht damit nichts zu tun zu haben. Individualismus ist in der Hauptsache durch die Achtung vor dem Individuum als Menschen gekennzeichnet.“
Respektiert man jeden einzelnen Menschen als freies Individuum, so bleibt dies erwartungsgemäß nicht ohne Konsequenzen für ein vormals starres, gesellschaftlich festgezurrtes System. Diese A-priori-Erwartung bildet sich in der empirisch erkennbaren historischen Entwicklung tatsächlich ab: „Die allmähliche Umwandlung eines starr organisierten hierarchischen Systems in ein solches, in dem die Menschen zumindest versuchen konnten, ihr Leben selber zu gestalten, indem sie die Gelegenheit erhielten, verschiedene Lebensformen zu erforschen und zwischen ihnen zu wählen, ist auf das Engste mit dem Aufblühen des Handels verbunden. Die Erkenntnis, dass die spontane und ungelenkte Betätigung von Einzelwesen ein komplexes und koordiniertes System von Wirtschaftsakten hervorzubringen vermochte, konnte sich erst einstellen, als diese Entwicklung einen gewissen Punkt erreicht hatte. Wenn man im Nachhinein daran ging, die Wirtschaftsfreiheit nun systematisch zu begründen, dann war das der freien Entfaltung des wirtschaftlichen Lebens zu verdanken. Sie war ein unbeabsichtigtes und unerwartetes Nebenprodukt der politischen Freiheit.“ Damit erweist sich Hayek als „Austrian“ im klarsten Sinne, denn er analysiert die spontane, dezentrale Ordnung der Systemschaffung als Ursache ihrer besonders gedeihlichen Funktionsfähigkeit.
Weiter formuliert er: „Das wichtigste Ergebnis, das die Entfesselung der Energien aller Individuen mit sich brachte, dürfte aber wohl die wunderbare Entfaltung der Wissenschaft sein. Erst nachdem die Gewerbefreiheit der Anwendung des neu gewonnenen Wissens freie Bahn verschaffte, konnte die Wissenschaft jene riesigen Fortschritte machen, die das Bild der Welt in den letzten 150 Jahren geprägt haben. Überall, wo die Schranken für die freie Betätigung des menschlichen Genius fielen, eröffnete sich den Menschen dann auch die Möglichkeit, ihre ständig wachsenden Bedürfnisse zu befriedigen. Es steht außer Zweifel, dass diese Erfolge die kühnsten Träume übertrafen, dass der Arbeiter im Abendland zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Grad materieller Wohlfahrt, Sicherheit und persönlicher Unabhängigkeit erreicht haben würde, der ein Jahrhundert früher kaum denkbar erschienen war.“
Das in der Folge indes wesentlichste Problem für das Verständnis dieses empirischen Befundes liegt Hayek zufolge in der Bewertung des Vorganges für künftiges menschliches Verhalten. Denn es scheint dem Beobachter auf der Hand zu liegen, dass der Mensch zwar „Macht über das eigene Schicksal“ und Herrschaft über „die unbegrenzten Möglichkeiten der Verbesserung seiner Lage“ habe. Worin genau aber die letztlich entscheidende Erfolgsursache dafür lag, war dem bloßen Auge nicht ohne Weiteres erkennbar. Im Gegenteil. Menschliche Individuen weiterhin all das tun zu lassen, was ihnen selbst als sinnvoll galt, schien plötzlich für das große Ganze nicht mehr hinreichend offenkundig zweckdienlich: „In den Prinzipien, die diesen Fortschritt in der Vergangenheit ermöglicht hatten, sah man schließlich mehr ein Hindernis für seine Beschleunigung statt einer Vorbedingung für die Erhaltung und Weiterentwicklung des bereits Errungenen.“
Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass es gerade die spontane und nicht ferngesteuerte Betätigung kreativer Individuen war, die zur Lageverbesserung geführt hatte, blieb der breiten Analyse verborgen. Es erwuchs die Illusion, vergleichbare Erfolge auch künftig willentlich und nun sogar gezielt fortschreiben zu können. Es bestehe jedoch, formuliert Hayek, „ein himmelweiter Unterschied zwischen der bewussten Schaffung eines Systems und dem passiven Sichabfinden mit den nun einmal bestehenden Einrichtungen“. Hayek bemüht in diesem Zusammenhang das Bild eines Gärtners, „der eine Pflanze pflegt und der zur Schaffung der für sie günstigsten Wachstumsbedingungen möglichst viel über ihren Bau und ihre physiologischen Funktionen wissen muss“. Statt aber zunächst in Demut die Entstehungsvoraussetzungen und Bestehensbedingungen für den eingetretenen Fortschritt und Wohlstand zu ermitteln und grundlegend zu verstehen, schwenkte die bedürfnisgesteigerte Gesellschaft in eine Illusion der zügigen Machbarkeiten um.
In diesem Kontext stellt Hayek jedenfalls 1944 auch klar: Von einem – in heutiger Diktion – „Anarchokapitalismus“ im Sinne eines sich selbst überlassenen, vollends unregulierten Marktgeschehens hielt er nichts. Die bis heute oft kolportierte Einordnung des „Weges zur Knechtschaft“ als des Hoheliedes des Marktradikalismus ist daher definitiv unrichtig. Mehr noch. Hayek sagt vielmehr: „Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire.“ Und damit nicht genug. Im Jahre 1944 schien es Hayek noch nicht einmal ausgeschlossen, den „Gärtnern“ der Gesellschaft auch „die Manipulierung des Währungssystems und die Verhütung oder Überwachung von Monopolen“ anzuvertrauen. Die seinerzeitige Vorstellung Hayeks von der Angemessenheit einer neoliberalen Synthese für einen „dritten Weg“ aus ordnungspolitischen Grenzziehungen und einem freien Spiel von akzeptierten Marktkräften scheint – wie marktaffinere Kritiker Hayeks später genau hier monierend angemerkt haben – in diesen Worten deutlich auf.
Zugleich aber diagnostiziert Hayek bereits für die damalige Phase das debattierte Dilemma, Freiheit als Ursache von Wohlstand gegen den Vorwurf mangelnder Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft verteidigen zu müssen: „Der Liberalismus sah sich ständig gezwungen, Vorschläge zu bekämpfen, die den Fortschritt infrage stellten. Schließlich wurde er sogar als ‚negative‘ Doktrin angesehen, da er den einzelnen Individuen wenig mehr zu bieten imstande war als einen Anteil am allgemeinen Fortschritt – einem Fortschritt, der immer mehr als selbstverständlich hingenommen wurde.“
Sein damaliger Befund zum Scheinbesitzstand („Das Erreichte wurde als ein sicherer und unverlierbarer Besitz angesehen, der ein für alle Mal erworben war“) klingt 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches beklemmend vertraut. Auch heute lebt manche Politik erkennbar in der Vorstellung, erreichte Wohlstandsniveaus nicht immer neu erobern zu müssen, sondern sie als unverlierbar voraussetzen zu können.
Im Rahmen seiner geistesgeschichtlichen Einordnung dieser Entwicklung versäumt Hayek nicht, die Mentalitätsunterschiede zwischen einerseits der britischen und andererseits insbesondere der deutschen Befindlichkeit gegeneinander abzugrenzen. Er warnt jedoch als Österreicher in England seine britischen „westlichen“ Mitbürger, das Vereinigte Königreich nicht als dauerhaft gegen Kollektivismen aus dem Osten immunisiert zu betrachten: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tendenzen, die in der Schaffung der totalitären Systeme gipfelten, nicht auf die Länder beschränkt waren, die ihnen erlegen sind. Nun fällt es uns gewiss schwer, Deutschland, Italien oder Russland als Ergebnisse einer geistigen Entwicklung anzusehen, die auch die unsere war. Wir meinen auch heute noch, dass wir uns bis vor ganz kurzer Zeit von Ideen leiten ließen, die man als das Laissez-faire-Prinzip bezeichnet. Schon mindestens ein Vierteljahrhundert, bevor das Gespenst des Totalitarismus bedrohlich wurde, hatten wir uns (aber schon) mehr und mehr von den geistigen Grundlagen, auf denen die europäische Kultur errichtet ist, entfernt. Schritt für Schritt haben wir jene Freiheit der Wirtschaft aufgegeben, ohne die es persönliche und politische Freiheit in der Vergangenheit nie gegeben hat. Obwohl einige der bedeutendsten politischen Denker des 19. Jahrhunderts, wie Tocqueville und Lord Acton, warnend darauf hingewiesen hatten, dass Sozialismus Sklaverei bedeutet, haben wir uns stetig in diese Richtung bewegt.“
Die Gründe für diesen Epochenbruch sah Hayek in einer zeitgeschichtlichen Dominanz des geistigen Einflusses deutscher Denker auf das europäische Denken. Nach dem Jahre 1870 seien die vorherigen freiheitlichen Philosophien Englands in die Defensive gerückt: „England wurde zu einem geistigen Einfuhrland.“ Übersehen wurde, dass Deutschland trotz seiner großen Wohlstandssteigerungen und des außerordentlichen Rufes seiner Gelehrten weltweit bereits in den gefährlichen Griff des Sozialismus geraten war: „Die meisten neuen Ideen und besonders der Sozialismus stammten zwar nicht aus Deutschland, aber dort wurden sie vervollkommnet. Man denkt nicht mehr daran, dass Deutschland ein Menschenalter, bevor der Sozialismus bei uns zu einem ernsten Problem wurde, eine starke sozialistische Partei im Reichstag sitzen hatte.“ Viele Menschen rund um den Erdball glaubten, es könne den Deutschen gelingen, die Abläufe in ihrer Gesellschaft ebenso willentlich zu gestalten, wie sie ihre Maschinen ingenieurtechnisch perfektionierten.
Mit dieser Analyse beschließt Hayek das erste Kapitel und leitet über zur Frage nach der großen Illusion, der er als Motto den Satz Hölderlins voranstellt: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“
(wird fortgesetzt)
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