12. Januar 2024 07:00

Falsche Freunde – Teil 2 Keine Schule der Freiheit

Liberalismus und Zentralismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Werner Spremberg / Shutterstock Wilhelm von Humboldt: Bekannt für seine umfassende Reform des deutschen Bildungswesens

Der Ruf nach nationaler Einheit geht stets mit der Realisierung von Zentralstaatlichkeit einher. Föderale Lösungen galten und gelten immer noch als fauler Kompromiss. Ob es um Österreich-Ungarn, um Frankreich oder um die sich erst konstituierenden Nationen Italien und Deutschland ging, die Liberalen fochten meist gegen lokale und regionale Eigenständigkeiten und für die Etablierung eines starken Zentralstaats. Dies führt zu der noch heute gern gebrauchten, diffamierend gemeinten Darstellung, das Gesellschaftsmodell des Liberalismus bestehe aus Individuen, frei im Sinne der Vereinzelung, und einem Zentralstaat, der für alle gemeinschaftlichen Belange zuständig sei.

Eine gewisse Nachvollziehbarkeit erhält das liberale Eintreten für Zentralisation, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die lokalen Eigenständigkeiten im 19. Jahrhundert vor allem in den feudalen und kirchlichen Relikten residierten, die keineswegs an der Freiheit des Einzelnen und an seiner bestmöglichen Entwicklung, sondern an seine Unterordnung unter eine überkommene Moral und Ordnung interessiert waren.

Die Zwickmühle der Liberalen lässt sich besonders eindrucksvoll und nachvollziehbar an dem Beispiel der Schulpolitik Wilhelm von Humboldts (1767–1835) ablesen. In seiner erst 50 Jahre nach seinem Tod publizierten Skizze zur „Grenze der Wirksamkeit des Staats“ hatte Humboldt 1792 konstatiert, dass es mitnichten zu den Staatsaufgaben gehöre, sich in die Erziehung einzumischen und Schulen zu unterhalten. Diese Skizze eignet sich auch gut, um diese Mär, der Liberalismus predige die Vereinzelung, in das Reich der Propaganda zu verbannen: Es geht Humboldt darum, dass die Menschen sich in freiwilligen Gruppen zusammenschließen, ihre Angelegenheiten regeln und – vor allem – zum Menschsein bilden.

1809/10 wurde Humboldt zum Sektionschef für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium berufen (heute würde man sagen: zum Bildungsminister ernannt). Er übte das Amt nur elf Monate aus und leistete in dieser kurzen Zeit Erstaunliches, aber leider nicht nur erstaunlich Gutes. Er fand sich der Situation gegenüber, dass die Bildung in der Hand der Kirchen, der Zünfte, der Ritterakademien, Kadettenschulen und Realschulen, der Hauslehrer bei Aristokraten und gehobenen Bürgern sowie der privaten sogenannten Winkelschulen lag. Zu diesen letztgenannten Winkelschulen findet man fast nichts in der wissenschaftlichen Forschung, wenn überhaupt werden sie im Vorübergehen negativ erwähnt; sie sind ein Feld, das es zu erkunden gälte. Natürlich wären genau diese Winkelschulen es gewesen, die von heutiger liberaler Sicht aus für Humboldt ein Anknüpfungspunkt hätten sein können. Sie gingen aus der freien Interaktion zwischen Eltern, Schülern und Lehrern hervor.

Aber alle diese neben der Familie bestehenden Erziehungsinstanzen entsprachen nicht dem humboldtschen Bildungsideal, das auf die sogenannte reine Menschenbildung ausgerichtet war, das heißt, es sollte völlig zweckfrei um den Erwerb der griechischen Sprache gehen (nichts anderes hielt Humboldt für bildsam). Die bestehenden Erziehungsinstanzen dagegen zielten jeweils auf definierte Zwecke ab, vor allem auf den Zweck, die Kinder auf ihre sozialen und beruflichen Rollen vorzubereiten. Das war für Humboldt inakzeptabel. Die heute von manchen Konservativen vertretene Ansicht, die humboldtsche Allgemeinbildung sei eine geeignete oder notwendige Vorbereitung auf das (berufliche) Leben, steht im diametralen Widerspruch zu Humboldts Bildungsdenken.

Das Ziel von Humboldts Bildungspolitik war es, die bis dahin bestehende vielgestaltige (aber zum Teil eben auch spätfeudalistische) Bildungslandschaft durch ein strenges Einheitssystem zu ersetzen. Als Vorbereitung für den bildsamen Griechischunterricht war eine Elementar- (heute: Grund-) Schule nötig. Für diese interessierte Humboldt sich nur wenig. Um sich nicht mit Einzelheiten herumschlagen zu müssen, verfügte er, dass in der einheitlichen Elementarschule nach einer einzigen Methode zu unterrichten sei, nach der alle Lehrer ausgebildet werden müssten. Diese Methode war diejenige von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Dabei störte es Humboldt weder, dass er wenige Jahre zuvor Pestalozzis „mechanische“ Methode scharf kritisiert hatte, noch, dass Pestalozzi sie überhaupt nicht für eine große Allgemeinheit vorgesehen, sondern als eine Methode erdacht hatte, die verwahrlosten Waisenkinder, die er unterrichtete, zu disziplinieren. Was Humboldt wirklich interessierte, war die Einrichtung der Gymnasien und der Universität zu Berlin.

Ich möchte betonen, dass Humboldt das Gymnasium nicht etwa als Teil eines dreigliedrigen Schulwesens plante, sondern als Einheitsschule für alle, die nach dem Besuch der Elementarschule weitere Jahre zur Schule gehen wollten (wenn auch nicht notwendig bis zum Abitur). Dass in Deutschland das dreigliedrige Schulwesen entstand, ist der Tatsache geschuldet, dass Humboldt sich nicht restlos durchsetzen konnte: Dieses Schulwesen ist das Ergebnis eines unentschiedenen Machtkampfes.

Humboldt vergaß sein früheres Ideal einer Nichtstaatlichkeit des Schulwesens nicht völlig. In einer merkwürdigen Vorwegnahme der leninistischen Dialektik vermeinte Humboldt, dass nach der Durchsetzung seines Bildungsideals die Bildungseinrichtungen in die Hände der Nation zurückgelegt werden mögen; unter Nation verstand Humboldt nicht den Staat, sondern die Gesellschaft. Aus diesem Grund trat Humboldt dagegen ein, dass der Besuch des Gymnasiums unentgeltlich sei. Die Bürger sollten sich nicht daran gewöhnen, für Unterricht nichts bezahlen zu müssen. Dann wäre die Zurückgabe der Gymnasien in die Hände der Nation (besser: in die Hände der Bürger) kein so scharfer Bruch.

Die Unentgeltlichkeit des Gymnasiums steht in einem anderen Zusammenhang, der ebenso delikat ist. Aufgrund dessen, dass die Gymnasien auf Schulgeld angewiesen waren, konnten sie keine soziale Selektion vornehmen: Jeder, der zahlte, wurde genommen. Dies führte dazu, dass neben den Aristokraten und gehobenen Bürgern auch Bauern, Handwerker und Arbeiter aufs Gymnasium gingen, wenigstens einige Jahre, wenn nicht bis zum Abitur. Erst mit der Unentgeltlichkeit des Gymnasiums, also dessen Finanzierung aus der Staatskasse, wurde es für sie wirtschaftlich tragbar, die Schüler nach ihrer sozialen Herkunft zu selektieren.

Diese Selektion war darum für die herrschende Klasse wünschenswert, weil es natürlich gar nicht um Menschenbildung im Sinne Humboldts ging, sondern darum, ein Instrument an der Hand zu haben, mit dem der Nachwuchs für die Klasse der Herrschenden ausgebildet wurde. Jede Einsicht in die wirkliche Funktion von Bildung ging Humboldt freilich ab.

Wie bei der Allianz von Liberalismus und Nationalismus (die in Folge eins dieser Serie behandelt wurde) sehen wir am Beispiel des humboldtschen (Bildungs-) Zentralismus, dass die Allianz einer nachvollziehbaren Logik folgt, aber zu einem Ergebnis führt, das dem Liberalismus geradezu entgegengesetzt ist. Oder pointierter gesagt: Der Liberalismus hat sich zu Tode gesiegt.

Besteht die Alternative darin, an der reinen Idee festzuhalten, aber die gesellschaftlich-geschichtliche Wirksamkeit aufzugeben? Oder gibt es eine Möglichkeit, im Kontext der realen Machtkämpfe doch etwas für die Freiheit zu tun? Das wäre unsere Aufgabe.


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