Falsche Freunde – Teil 3: Die unerbittliche Logik der Macht
Liberalismus und Kolonialismus
von Stefan Blankertz
Wenn heute von Sieg und Erfolg des Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert gesprochen wird, wird meist die enge Verbindung mit dem Kolonialismus unterschlagen. England – vor Frankreich, Spanien, Portugal, den Niederlanden und (ganz abgeschlagen) Deutschland und Italien – die führende Kolonialmacht, ist auch eines der Musterländer des Liberalismus. Das andere Musterland, die USA, waren keine Kolonialmacht (gingen vielmehr selbst aus Kolonien hervor), übernahmen dann aber die Führungsrolle im Neokolonialismus (Imperialismus).
Die Behauptung besonders von marxistischer Seite, der Reichtum „des Westens“ (England, Frankreich, USA) basiere auf der Ausbeutung der Kolonien (oder später der Quasi-Kolonien), ist vermutlich ökonomisch falsch. Vielmehr kostete der Kolonialismus insgesamt mehr, als dass er einbrachte. Das heißt, die liberalisierte Wirtschaft versetzte die kolonialistischen Nationen in die Lage, sich den Kolonialismus leisten zu können. Es gab durchaus bereits im 19. Jahrhundert liberale Ökonomen, die dies so sahen; insbesondere Ökonomen aus der heute zu Unrecht verfemten sogenannten Manchesterschule. In den USA begehrten ebenfalls Vertreter der Freihandelslehre gegen den beginnenden Neokolonialismus auf und gründeten die erste Antiimperialistische Liga (ein Begriff, der dann in den 1970er Jahren von Maoisten okkupiert wurde). Ihr Argument gegen den (Neo-) Kolonialismus war nicht primär ökonomischer, sondern eher politischer Natur, nämlich dass Regierung nur dann legitim sei, sofern eine Zustimmung der Regierten vorliege.
Warum wurde der Kolonialismus, wenn er ein wirtschaftliches Verlustgeschäft war, dann überhaupt durchgeführt? Weil sich die politischen Entscheidungen nicht nach der Gesamtbilanz ausrichten, sondern danach, ob die jeweils herrschenden Gruppierungen von der Situation profitieren oder nicht. Allerdings vermochte es die Mär, der Kolonialismus (und nicht der Freihandel) führe zum Reichtum einer Nation, breite Schichten der Wählerschaft in den Industrienationen auf das kolonialistische Programm zu verpflichten. Niemand Geringeres als Marx und Engels waren der Auffassung, dass die erzwungene „Zivilisierung“ und wirtschaftliche Entwicklung der kolonialisierten Länder ein notwendiges Durchgangsstadium zur Befreiung darstellten.
In der Frage des Kolonialismus sehen wir, dass Liberale anfangen, sich kritisch mit der Entwicklung der „liberalen“ Staaten auseinanderzusetzen. Sie besinnen sich auf die liberalen Prinzipien und geraten in den Gegensatz zum Staat. Allerdings katapultieren sie sich damit aus der Realpolitik heraus – wer dagegen wirksam bleiben oder werden wollte, machte das Spiel mit, ob er ihm nun innerlich beipflichtete oder nicht.
Denn wer bot sich als Koalitionspartner an? Die antikolonialistischen und antiimperialistischen Bewegungen in den betroffenen Ländern gründeten in militantem Nationalismus und orientierten sich am Staatskommunismus entweder der UdSSR oder, später, der VR China. Von Freihandel wollten sie nichts wissen, von Menschen- und Freiheitsrechten schon gar nichts. Das liberale Denken, die liberale Wirtschaft, die liberalen Werte identifizierten sie mit der verhassten „westlichen Welt“, während sie dem ebenfalls dem westlichen Denken entspringenden Nationalismus und Kommunismus Zugehörigkeit zum Widerstand bescheinigten.
Ausgehend vom Selbstverständnis der liberalen Prinzipien (wie sie etwa Ludwig von Mises in seinem Buch „Liberalismus“ 1927 darlegte) ist die Identifizierung von Liberalismus mit Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus sowohl ungerecht als auch peinlich. Doch erfolgt diese Identifizierung nicht aufgrund der Bewertung der Prinzipien, sondern wegen der realpolitischen Wirkung. Und in dieser Hinsicht ist die Identifizierung leider richtig. Damit hat der Liberalismus die Quittung bekommen dafür, sich über Hunderte von Jahren mit den Falschen eingelassen zu haben („ins Bett gegangen zu sein“, um es in der englischen Diktion der Spruchweisheit zu sagen).
Die Macht und die Möglichkeit, im Reich der Macht wirksam zu werden, fragen nicht nach Prinzipien. Und doch erfolgt die nachträgliche Bewertung, indem sie die realpolitischen Wirkungen auf die Prinzipien überträgt, die angeblich die Grundlage bilden. Diese Bewertung selber steht aber nicht außerhalb des Machtkampfes, sie ist ihrerseits Teil von ihm. Die Abwertung des Liberalismus als einerseits sozialfeindlicher Individualismus und andererseits als nationalstaatlicher Kolonialismus zielt darauf ab, die Idee der Freiheit aus dem Denken der Menschen zu tilgen, sie zu diskreditieren.
Das liberale Vertrauen darauf, die Menschen seien zumindest in ihrer überwiegenden Mehrheit an Frieden und Freiheit interessiert, ist leider allzu naiv. Die Logik der Macht hat ihre eigene Rationalität. Sie fragt einzig danach, wie sich mit der Hilfe von (Staats-) Gewalt das eigene (ökonomische) Wohlergehen sichern und steigern lasse. Wer sich, um Frieden und Freiheit zu erreichen, aus dieser Machtrationalität verabschiedet, verabschiedet sich fast automatisch von der Chance, sich durchzusetzen, weil Durchsetzung im Reich der Macht zugleich erfordert, sich ihrer Logik zu unterwerfen.
Meine Schlussfolgerung aus den Überlegungen zu den Allianzen, die Liberale für ihre realpolitische Wirksamkeit eingegangen sind, lautet, dass es unmöglich ist, der Freiheit auf politischem Weg zu dienen. Politik bleibt immer die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln, aber kann sich aus der Logik des bewaffneten Kampfes nicht lösen, selbst wenn dieser Kampf die zivilisierte Form der demokratischen Abstimmung annimmt.
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