20. Januar 2024 11:00

Ökonomik Warum gibt es überall Protektionismus?

Über Sichtbarkeit und Verteilung der Effekte von Handelsbeschränkungen

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Andrii Yalanskyi / Shutterstock Protektionismus: Der große Einfluss von Lobbygruppen auf die Politik

Nach einer verlängerten Weihnachtspause in Deutschland bin ich diese Woche ins schöne Angers zurückgekehrt. Was macht man gemeinhin am ersten Abend? Man geht in einen Pub mit Freunden. Wen trifft man in Pubs? Engländer. Paul ist Informatiker. Wir kommen ins Gespräch.

Paul: „Es ist schon verrückt, dass ich als Engländer für ein schwedisches Unternehmen hier in Frankreich arbeite.“

Ich: „Ja und das trotz Brexit. War wohl doch kein Weltuntergang.“

Paul: „Findest du es gut, dass Großbritannien raus ist?“

Ich: „Nein, für Deutschland ist es eine Katastrophe, dass ihr raus seid. Ihr wart ja, neben einigen kleineren Ländern, die einzigen Verbündeten, die wir in Fragen der Außenhandelspolitik hatten. Aber wäre ich Engländer, hätte ich für den Brexit gestimmt. Wie hast du denn abgestimmt?“

Paul: „Ich habe für den Brexit gestimmt. Denn warum sollen wir als Nettozahler neben Deutschland die neuen Straßen in Irland finanzieren? Jetzt stehen die Deutschen ganz allein da. Wie lange soll das denn so weitergehen? Fändest du es gut, wenn Deutschland auch die EU verließe?“

Ich: „Ja, die ganze Sache wirkt nicht so richtig nachhaltig. Aber so was geht doch meistens länger als man denkt. Es wäre aus meiner Sicht besser, wenn Deutschland die EU im gegenwärtigen Zustand verließe. Wenn man sie schon nicht reformieren kann. Wirtschaftliche Integration, Kooperation und Handel kann man auch ohne ein politisches Machtzentrum in Brüssel erreichen.“

Paul: „Genau! Warum soll man sich aus Brüssel Regulierungen in allen möglichen Bereichen vorschreiben lassen. All we need is free trade!“    

Und an dieser Stelle begann ich innerlich zu singen: „God save the Queen … ähh King …“

Die Tradition des Freihandels hat in England in der Tat eine lange Tradition. Die klassischen britischen Ökonomen, wie Adam Smith und David Ricardo, haben mit ihren überzeugenden Argumenten für den Freihandel den weitverbreiteten Merkantilismus überwunden. Freihandel erlaubt es, die Vorteile der Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene auszunutzen, sodass Produktion und Wohlstand insgesamt für alle Beteiligten steigen.

Ludwig von Mises und viele weitere Vertreter der moderneren Ökonomik haben diese Gedanken weitergeführt. Letztendlich fußt das ökonomische Argument für den Freihandel auf der Einsicht, dass ein freiwilliger Tausch wohlfahrtsfördernd ist. Wenn sich das Tauschen für die Tauschpartner nicht lohnt, hören sie auf zu tauschen. Deshalb ist eine natürlich gewachsene, auf Freiwilligkeit aufbauende, tauschbasierte und arbeitsteilige Volkswirtschaft wohlstandsfördernd – ob auf nationaler oder internationaler Ebene. Wer den freiwilligen Tausch zwischen Individuen unterschiedlicher Länder infrage stellt, tut dies letztlich in Bezug auf den freiwilligen Tausch auch ganz grundsätzlich.

Es gibt kaum ein wirtschaftliches Thema, bei dem so große Einigkeit unter Ökonomen herrscht wie der Freihandel. Der im vergangenen August verstorbene amerikanische Ökonom Robert Ekelund sagte einmal zu mir, dass sich wohl locker über 90 Prozent aller Ökonomen für den Freihandel aussprechen würden. Bei diesem Thema sind sich wirklich fast alle einig.

Die drängende Frage, die sich stellt, ist, warum es überhaupt noch protektionistische Handelsbeschränkungen gibt, wenn die ökonomische Theorie doch so eine klare Sprache spricht und auch die historische Erfahrung lehrt, dass Handel wohlfahrtsfördernd ist. Warum sehen wir überall Protektionismus?

Auch dazu hat die Ökonomik eine passende Antwort. Insbesondere die moderne Public-Choice-Theorie kann hier Aufschluss liefern. Die Sache ist etwas komplizierter, als es manchmal den Anschein hat.

Freihandel liefert langfristige Vorteile für die gesamte Volkswirtschaft. Aber er kann durchaus mit kurzfristigen Nachteilen für bestimmte Gruppen einhergehen. Beim Protektionismus ist es genau andersherum. Er bringt langfristige Nachteile für die gesamte Volkwirtschaft, aber in der Regel auch kurzfristige Vorteile für bestimmte Gruppen. Dadurch, dass die Vorteile des Protektionismus bereits kurzfristig zur Entfaltung kommen und sich auf eine bestimmte Gruppe konzentrieren, sind sie besonders sichtbar und lassen sich politisch ausnutzen.

Wenn die EU zum Beispiel Agrarzölle erhebt, dann gewinnen die Landwirte innerhalb der EU, da sie vor Konkurrenz aus Drittländern geschützt werden und das Preisniveau für Lebensmittel innerhalb der EU höher ausfällt, als es sonst der Fall wäre. Alle Verbraucher zahlen deshalb einen etwas höheren Preis für Lebensmittel. Dieser Nachteil ist marginal und verteilt sich auf die gesamte Volkswirtschaft. Er ist deshalb nicht so sichtbar wie der Vorteil der Zölle, der sich auf die relativ kleine Gruppe der Landwirte konzentriert. Genauso ist es bei jedem anderen Zoll auch, ob für Metalle, Fahrräder, Autos oder was auch immer. Es gibt jedes Mal eine kleine Gewinnergruppe. Die breite Masse der Leute verliert, aber merkt es nicht direkt am einzelnen Zoll. Und was die Leute nicht direkt merken, stellt auch kein politisches Problem dar. Das sind Kosten, die man als Politiker gern in Kauf nimmt.

Die sichtbaren Vorteile kann man für sich auf die Fahnen schreiben. Es werden Arbeitsplätze in bestimmten Bereichen gesichert und Unternehmen vor der Pleite gerettet. Damit lässt sich Politik machen. Für jede einzelne Handelsbeschränkung gilt diese Logik: Der breiten Masse kann sie im Einzelnen fast egal sein. Es lohnt sich nicht, dagegen zu demonstrieren. Die Gewinnergruppe hat aber ein starkes Interesse daran, sich in Verbänden zu organisieren und für die Handelsbeschränkungen Lobbyarbeit zu betreiben. Deshalb sind die politischen Anreize so gesetzt, dass man eher einen Zoll mehr einführt, als einen abzuschaffen.

Der Politiker, der sich dazu bemüßigt fühlt, Zölle und Handelsbeschränkungen abzuschaffen, wird damit kurzfristig spürbare Kosten bei bestimmten Gruppen verursachen. Die langfristigen Vorteile des Abbaus von Handelsbeschränkungen kommen zu spät. Da ist die Wiederwahl vielleicht schon verloren. Es ist wie so oft im Leben: Das, was langfristig gut und vernünftig ist, kostet kurzfristig etwas. Die Politik ist aber zu oft kurzfristig orientiert. Sie nimmt langfristige Kosten in Kauf, um bestimmten Gruppen kurzfristig sichtbare Vorteile zu verschaffen. Es ist politisch rational, das zu tun, was langfristig nicht zur besten Lösung führt. An dieser Anreizstruktur krankt auch die politische Führung der EU. Paul und viele andere Briten hatten den richtigen Riecher.  


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