26. Januar 2024 07:00

Falsche Freunde – Teil 4 Die Kraftlosigkeit der besseren Idee

Liberalismus und Faschismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Das Bundesarchiv (CC BY-SA 4.0 Deed) „Duce“ – hier im Jahr 1930 in Mailand: „Bollwerk gegen den Bolschewismus“

Gemessen an den Ideen kann es keinen größeren Abstand in der Politik geben als den zwischen individueller Selbstbestimmung (Liberalismus) und unbedingtem Vorrang der Zwangsgemeinschaft mit absoluter Unterordnung des Individuums (Faschismus). Aber wie sieht es innerhalb der politischen Arena aus?

Der Faschismus entsteht in Italien als revolutionäre, proletarische, antibürgerliche und kulturverachtende sowie kulturzerstörende Antwort auf den Bolschewismus, wie er sich in der jungen UdSSR herauszubilden begann. Die Kommunisten wandten sich an die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und an die avantgardistischen Kulturschaffenden, die von einer besseren Welt träumten. Die Faschisten wandten sich an die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, an Handwerker und kleine Geschäftsleute, vor allem in den Provinzen, sowie an die technische Intelligenz, die von der Beherrschung der Gesellschaft durch Technologie träumten. Allerdings waren sie alles andere als erfolgreich, bis Mussolini auf einen genialen Trick verfiel: Er bot dem Bürgertum seine antibürgerliche Bewegung als Bollwerk von dessen Welt gegen den vermeintlich drohenden Bolschewismus an. Vereinzelte antibürgerliche Aktivisten wie der futuristische Künstler Marinetti kündigten Mussolini daraufhin die Gefolgschaft, aber insgesamt konnte Mussolini diese widersprüchliche Koalition schmieden. Es ist erstaunlich, wie beide Seiten sich von dieser Koalition belügen ließen. Es ist erstaunlich, es ist aber auch bitter und beängstigend. Zwei Seiten, die absolut das Gegenteil voneinander wollen und das Gegenteil von der Staatsgewalt erwarten, werden zu einer gemeinsamen Kraft zusammengehalten. Der Duce wird es richten, seine gottgleiche Kraft wird es ermöglichen, beide Gegensätze wahr werden zu lassen. Glauben Menschen das wirklich? Ja, sie tun es. 1923 wurde den Faschisten in Italien und Portugal feierlich die Macht übergeben. In Deutschland schickte der Nationalsozialismus sich an, das Rezept Mussolinis ebenfalls anzuwenden.

In ganz Europa gab es führende bürgerliche und sogar liberale Intellektuelle und Politiker, die daran glaubten, dass sie der Faschismus respektive Nationalsozialismus vor der Barbarei des Bolschewismus retten werde.

Von allen, die diesem Aberglauben erlagen, schockiert mich der Fall von Ludwig von Mises am meisten. In der ersten Folge der Serie habe ich auf seine geniale Skizze des Liberalismus aus dem Jahr 1927 hingewiesen, in der er ein universelles und bedingungsloses Sezessionsrecht jeder Region bis hin zu einem Dorf oder Stadtteil proklamiert: Universell und bedingungslos bedeuten, dass das Recht auf Sezession nicht von geschichtlichen oder sprachlichen Grenzen begrenzt ist. Einzige Voraussetzung ist laut Mises der (mehrheitliche) Wille in der Region, nicht mehr zu dem angestammten Staat gehören zu sollen, sondern selbständig zu sein oder sich einem anderen existierenden Staat anzuschließen. Damit schließt Mises zugleich aus, dass ein Staat auf das Gebiet eines anderen Staats Anspruch haben könnte, wenn die dort lebende Mehrheit nicht ausdrücklich wünscht, sich ihm anzuschließen. Nur so ließen sich Kriege, Revolutionen und andere interne Kämpfe vermeiden, meinte Mises. Nichts könnte weiter entfernt sein vom Nationalismus, Zentralismus, Militarismus, Interventionismus und Sozialismus der Faschisten als diese Idee des Liberalismus. Und dennoch notiert Mises an einer Stelle: „Es kann nicht geleugnet werden, dass der [italienische] Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.“

Von wegen „ewig“: 1944 musste Mises zugeben, sich geirrt zu haben. Mussolini war alles andere als „voll von den besten Absichten“ beseelt. Mises realisierte das wohlgemerkt erst, nachdem auch in Deutschland dem Faschismus die Macht übergeben worden war; denn er selber war Opfer des (deutschen) Faschismus geworden. Irgendwie liegt darin, zynisch gesprochen, auch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit.

1927 hielt Mises die Russische Revolution und ihre Folgen für die schlimmste Bedrohung der „europäischen Gesittung“; und den Faschismus schätzte er fälschlich als eine Gegenkraft ein und nicht als eine Kraft, die in die gleiche Richtung wie der Bolschewismus ging. Das war eine krasse analytische Fehlleistung. 1932 zeigte Ernst Jünger in „Der Arbeiter“, dass Bolschewismus und Faschismus die gleichen sozialen und technologischen Grundlagen teilten und eben in die gleiche Richtung wirkten. (Es ist umstritten, ob Ernst Jünger sich zu dem Zeitpunkt – also Anfang der 1930er Jahre – mit dieser sogenannten nationalbolschewistischen Perspektive identifizierte oder nicht; diese Frage berührt aber nicht den Punkt, dass seine Analyse richtig war.)

Was Mises über die Tatsache hinaus, dass Bolschewisten und Faschisten aus der gleichen Idee geboren waren, nicht sah, war die tiefe Verwurzelung dieser Barbarei in der „europäischen Gesittung“ – das war die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno so genannte „Dialektik der Aufklärung“. Die Russische Revolution samt ihrem spezifischen Verlauf mit dem Sieg der Bolschewisten ist ohne den Ersten Weltkrieg nicht zu erklären. Sie ist nicht zu erklären ohne das Interesse des Deutschen Kaiserreichs an diesem Verlauf der Revolution. Im Britischen Kolonialreich, im Deutschen Kaiserreich, in den bellizistischen USA, im Bolschewismus kulminiert die wirkliche Geschichte Europas und obsiegt über die liberale Idee.

Aber Mises’ Fehlleistung ging noch darüber hinaus, und das berührt die Debatte zwischen Liberalismus und Anarchismus. Denn in Italien waren nicht etwa die Bolschewisten ([Staats-] Kommunisten, Marxisten) die führenden revolutionäre Kräfte, sondern die Anarchisten. Die leninistisch-stalinistische Dritte Internationale hatte keinen großen Einfluss, insbesondere in Italien nicht. Die einzige nennenswerte Sektion stellte die deutsche KPD dar. In Hamburg hat es 1923 tatsächlich einen von der Dritten Internationale ausgehenden grandios erfolglosen Versuch gegeben, eine Revolution zu starten; der einzige weitere Versuch, der ebenso scheiterte, fand 1924 in Estland statt. Die Dritte Internationale war, entgegen ihrer Dämonisierung, insgesamt ein totaler Flop. Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass die Hungernöte in Russland – kulminierend im Holodomor Anfang der 1930er Jahre – keine gute Reklame für den Bolschewismus machten. Jedenfalls waren in Italien die Anarchisten viel stärker als die moskauorientierten Kommunisten. Insofern zählte ich die krasse Fehleinschätzung, die sich Ludwig von Mises geleistet hat, indem er die dezidiert anti-bürgerlichen Faschisten Italiens als Retter des (liberalen) Bürgertums feierte, zu allen jenen verpassten historischen Chancen, dass die wahren Brüder im Geiste, die Liberalen und die Anarchisten, zusammenfinden. Dies leitet über zu den nächsten Folgen, in denen es um die Anarchisten und ihre falschen Freunde gehen wird.

Einstweilen halte ich fest, dass der von Ludwig von Mises behauptete Wert der besseren Idee (nämlich des Liberalismus) jedenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich nicht hat durchsetzen können und heute sieht es kaum besser aus: Vielmehr hat sich die Logik der Macht gegenüber der besseren Idee behauptet und durchgesetzt.


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