26. Januar 2024 11:00

Weltliteratur Individualismus und Kollektivismus

80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 4)

von Carlos A. Gebauer (Pausiert)

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Bildquelle: Klaaschwotzer / Wikimedia Signet für den ersten Fünfjahresplan der DDR: Damals wie heute zum Scheitern verurteilt

Das dritte Kapitel seiner Wegbeschreibung in die Knechtschaft beginnt Hayek mit einer Begriffsanalyse des Sozialismus. Er stellt fest, dass schon das Wort selbst für diskursive Verwirrung sorgt. Während einerseits die Ziele des Sozialismus – das heißt seine Ideale – allgemein konsensfähige Inhalte beschreiben, enthält seine Benennung andererseits auch eine Beschreibung der Methoden zur Erreichung dieser Ziele. Wer also „Sozialismus“ sagt, der kann sich sowohl auf das „Was“ der Sache als auch auf das „Wie“ ihrer Realisierung beziehen.

Während als Ideale des Sozialismus Umstände wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Sicherheit gelten, beziehen wir uns umgekehrt bei der Beschreibung seiner Methoden auf die Abschaffung der Privatunternehmen und des Privateigentums an Produktionsmitteln, um an deren Stellen ein zentrales, geplantes Kommandowirtschaftssystem durch eine Behörde zu setzen.

Kritiker des Sozialismus weisen stets darauf hin, dass gerade diese Methoden zur Verwirklichung der Ziele fragwürdig seien. Die Verteidiger der sozialistischen Idee halten den Kritikern umgekehrt entgegen, dass sie die Zielvorstellungen des Sozialismus nicht gutheißen wollten. Diese Verwirrung der Debatte sorgt offenkundig bis heute für immer wieder typische Streitigkeiten unter Diskursteilnehmern.

Hayek sieht aber noch weiteres Verwirrungspotenzial. Das „Hauptinstrument der sozialistischen Reform“ ist eben die Methodik der Planwirtschaft. Mit einer solchen rationalen Planung hoffen Sozialisten einer missliebig unkontrollierten – und also auch mindestens in ihren Ergebnissen ungerechten – „Profitwirtschaft“ begegnen zu können. Die gleichmäßige Versorgung aller Bürger solle daher durch eine wohlorganisierte, gerechte „Bedarfsdeckungswirtschaft“ ersetzt werden.

Im Kontext zu der Klarstellung des vorangegangenen Kapitels über die „große Illusion“, dass der Einzelne in der staatlichen Gesamtmaschine Freiheit finden könnte, stellt Hayek hier historisch-empirisch nüchtern fest: „Man muss ferner beachten, dass gerade der Sozialismus die liberal Gesinnten dazu gebracht hat, sich aufs Neue genau jener Reglementierung ihres Wirtschaftslebens zu unterwerfen, der sie ein Ende gemacht hatten, weil sie – um mit Adam Smith zu reden – Regierungen in die Lage bringt, ‚in der sie aus einer Selbsterhaltung zu Unterdrückung und Tyrannei greifen müssen‘.“ Anders gesagt: Die Gesellschaft floh vor den Befehlen des vormals tonangebenden Adels und findet sich nun inmitten der Befehle einer sozialistischen Planungskaste wieder. Sie ist also nur vom Regen in die Traufe gekommen.

Eine weitere kognitive Schwierigkeit bei der diskursiven Erörterung dieser sozialistischen Dysfunktionalität liegt in den schlicht kontraintuitiven Dimensionen des Planungsbegriffs selbst: „Das Wort ‚Planung‘ verdankt seine Beliebtheit zum großen Teil der Tatsache, dass wir natürlich alle unser Leben so rational wie möglich gestalten möchten und dass wir dabei so viel Voraussicht walten lassen, wie es uns nur irgend möglich ist. Insoweit ist jeder, der nicht ein völliger Fatalist ist, ein Planwirtschaftler. Aber dies ist nicht der Sinn, in dem diejenigen, die sich für eine geplante Gesellschaft begeistern, den Begriff heute verwenden. Was unsere heutigen Planer verlangen, ist die zentrale Lenkung jeder wirtschaftlichen Tätigkeit nach einem einzigen Gesamtplan.“

Nach diesen klarstellenden Differenzierungen ist der Boden für die Erkenntnis bereit, dass es für menschliches Handeln schlicht nicht um die Frage geht, ob überhaupt geplant wird, sondern vielmehr darum, wie geplant wird und – vor allem – wer der Planer ist.

Hayek zeigt sich an dieser Stelle seiner Werkentwicklung durchaus als Vertreter einer Auffassung, die staatlichen Akteuren vertrauensvoll entscheidende Rahmensetzungsaufgaben zuweist. Der Liberalismus lehre nämlich nicht, dass Bürger alle Dinge sich selbst überlassen sollten. Er verlange vielmehr, „dass ein sorgfältig durchdachter rechtlicher Rahmen die Vorbedingung für ein ersprießliches Funktionieren der Konkurrenz“ sein solle. Denn der Liberalismus halte das Konkurrenzprinzip in der Wirtschaftsaktivität von Menschen der fremdbestimmten Planung gerade deswegen für überlegen, weil es „die einzige Methode ist, die uns gestattet, unsere wirtschaftliche Tätigkeit ohne einen zwangsweisen oder willkürlichen Eingriff von Behörden zu koordinieren“. Der Wettbewerb als Ordnungsprinzip einer Gesellschaft erfordere daher durchaus bestimmte Arten staatlicher Aktivität. Der Wettbewerb als solcher müsse gesichert werden. Dies setze angemessene staatliche Rahmensetzung voraus: „Kein vernünftiger Mensch kann sich ein Wirtschaftssystem vorstellen, in dem der Staat ganz untätig ist.“

Das Ziel dieser staatlichen Rahmensetzungen muss jedoch nach der Beschreibung Hayeks stets darauf ausgerichtet sein, ein freies Wirtschaftssystem zu ermöglichen und abzusichern.

Wörtlich: „Einmal ist es nötig, dass die Beteiligten zu jedem Preis kaufen und verkaufen dürfen, zu dem sie einen Vertragspartner finden, und dass – wenn überhaupt irgendetwas produziert, gekauft oder verkauft werden darf – dies jedermann erlaubt sein muss. Ferner ist wesentlich, dass die unterschiedlichen Erwerbszweige allen zu gleichen Bedingungen offenstehen und dass das Recht sich jedem individuellen oder kollektiven Versuch widersetzt, die Gewerbefreiheit offen oder verdeckt gewaltsam zu beschränken. Jeder Versuch, Preise oder Mengen bestimmter Produkte zu regulieren, vereitelt eine befriedigende Koordination der Wirtschaftstätigkeit durch individuellen Wettbewerb, da Preisänderungen in diesem Fall nicht mehr die wesentlichen Datenänderungen registrieren und einzelnen Akteuren somit keine zuverlässigen Koordinationspunkte für ihre Wirtschaftstätigkeit liefern.“

Hat sich ein überreguliertes Wirtschaftssystem aber einmal in seinen Koordinationsbemühungen durch die Planer verheddert, fährt es sich fest: „Ist einmal dieses Stadium erreicht, so bleibt außer der Rückkehr zum Wettbewerb nur noch die Möglichkeit der Monopolüberwachung durch den Staat und wenn diese Überwachung wirkmächtig werden soll, so muss sie mit der Zeit immer umfassender und immer kleinteiliger werden.“ Die Ursache, dass staatlich koordinierte Wirtschaftssysteme in diesen fatalen Zustand hineinlaufen, sieht Hayek wesentlich darin, dass „die meisten Leute immer noch glauben, es müsse möglich sein, irgendeinen ‚Mittelweg‘ zwischen ‚atomistischem‘ Wettbewerb und zentraler Steuerung zu finden“. Genau hier aber mahnt Hayek zu regulatorischer Zurückhaltung. Denn wenn zwei sich wechselseitig ausschließende Prinzipien zur Lösung desselben Problems miteinander vermischt werden, dann kann keines von beiden noch funktionieren. Im Mittelpunkt müsse stehen, Planung zum Zwecke der Ermöglichung und des Erhaltes von wirtschaftlichem Wettbewerb zu betreiben, nicht aber Planung gegen den Wettbewerb.

Aus heutiger Sicht – 80 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Werkes – wird deutlich, mit welchen aktuellen Illusionen dieser immerwährende Streit zwischen angemaßter staatlicher Wirtschaftssteuerung und freier Marktentfaltung ausgetragen wird. Die Sehnsucht, Märkte planvoll in gerechte (und, wie es heute en vogue ist, ökologisch idealisierte) Bahnen lenken zu wollen, scheint inzwischen durch Digitalisierung und Totalüberwachung aller Akteure in greifbare Nähe gerückt zu sein. Doch auch in dieser Gestalt kollidieren wieder die Rigidität einer um Kontrolle bemühten Steuerungszentrale und die unbeherrschbare Buntheit der Realität in menschlicher Handlungsvielfalt. Welche Auswirkungen das für den Einzelnen hat, betrachtet Hayek im Folgekapitel.

(wird fortgesetzt)


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