Wirtschaftspolitik: Warum sich Sonderinteressen durchsetzen
Quidproquo bei politischen Abstimmungen
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert) drucken
In den Standardlehrbüchern der Volkwirtschaftslehre finden sich Kapitel über Kapitel zum Thema des Marktversagens. Marktversagen in allen Farben und Formen wird zur formalen Rechtfertigung von wirtschaftspolitischen Eingriffen herangezogen. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Ergebnisse des Marktes unvollkommen sind. Sie sind nicht perfekt – gemessen an dem, was sich ein menschlicher Geist so alles an alternativen Szenarien ausdenken kann. Es ist aber falsch, den Markt an fiktiven Idealen zu messen, die auch mit den bestgemeinten Staatseingriffen niemals erreicht werden können.
Der US-amerikanische Ökonom Harold Demsetz nannte es den Nirvana-Fehlschluss: Man denkt sich Traumwelten aus, die abstrakten Kriterien für Optimalität gerecht werden, nur um dann festzustellen, dass Märkte in der echten Welt an diese niemals herankommen. In der echten Welt sind die Verkaufspreise nicht gleich den Grenzkosten. Einige Unternehmen machen Gewinne, andere Verluste. Es gibt selten eine Vielzahl von Unternehmen, die identische Produkte herstellen und deshalb im „perfekten“ Wettbewerb zueinander stehen. Es gibt stattdessen Produktdifferenzierung und Marktmacht. Das nennt man dann Marktversagen und ruft nach der Korrektur durch den Staat.
Zum Phänomen des Staatsversagens haben die Standardlehrbücher des Faches hingegen nur wenig zu sagen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viel Anschauungsmaterial die Wirtschaftsgeschichte für Staatsversagen liefert. Und es ist noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sehr häufig nicht einmal die Hälfte der Bürger wirklich zufrieden ist mit der implementierten Politik. War es nicht das Versprechen der Demokratie, dass sie sich am Willen der Mehrheit orientiert? Ja schon, aber das ist oft bloß graue Theorie. Die Praxis lehrt etwas anderes: In der Regel setzt sich nicht das Interesse der Mehrheit oder gar der Allgemeinheit durch. In der Regel setzen sich Sonderinteressen durch. Die Tyrannei der Minderheit ist ein häufigeres Problem als die Tyrannei der Mehrheit.
Die Public-Choice-Theorie liefert dafür einige aufschlussreiche Erklärungen. Es gibt das Phänomen des „Logrolling“. Man könnte es auch ein politisches Quidproquo nennen – oder schlicht Stimmentausch bei Mehrheitsabstimmungen. Dieses Phänomen führt nicht nur dazu, dass sich Minderheiten in vielen Einzelpunkten durchsetzen können, sondern auch dazu, dass im Endeffekt eher zu viel Politik gemacht wird als zu wenig – und das nicht nur aus Sicht eines Liberalen, sondern aus Sicht der Mehrheit.
Man stelle sich vor, dass innerhalb einer politischen Einheit darüber abgestimmt würde, ob Steuern erstens dafür erhöht werden sollten, um den Klimaschutz zu fördern, und zweitens dafür, um das Straßennetz zu erneuern. Ein Drittel der Wähler, nennen wir sie Gruppe A, ist dafür, Steuern für den Klimaschutz zu erhöhen, aber nicht für den Straßenbau. Das zweite Drittel, Gruppe B, ist dafür, Steuern für die Erneuerung der Straßen zu erhöhen, aber nicht für den Klimaschutz. Gruppe C, das dritte Drittel, möchte gar keine Steuern erhöhen, weder für den Klimaschutz noch für den Straßenbau.
Nehmen wir an, dass eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, um eine Steuerhöhung und daran gekoppelte Ausgaben gesetzlich zu beschließen. Unter diesen Annahmen können wir konstatieren, dass zwei Drittel der Bürger (Gruppe A und C) gegen die Erhöhung der Steuern für den Straßenbau sind. Außerdem sind zwei Drittel der Bürger (Gruppe B und C) gegen die Erhöhung der Steuern für den Klimaschutz. Es wäre also im Sinne der Mehrheit, dass weder für das eine noch das andere Projekt Steuern erhöht würden. Logrolling führt aber dazu, dass die Steuern für beides erhöht werden und damit zweimal die Minderheiten über die Mehrheit triumphieren.
In der politischen Praxis ist es nämlich gang und gäbe, dass sich die Vertreter der einen Interessengruppe mit den Vertretern der anderen Interessengruppe absprechen und Stimmen miteinander tauschen, wenn sich daraus die nötigen Mehrheiten für ihre eigenen Zwecke ergeben. Die Vertreter der Gruppe A wählen zusammen mit den Vertretern der Gruppe B für die Steuererhöhungen zum Straßenbau, wenn umgekehrt die Vertreter der Gruppe B im Sinne der Gruppe A auch für die Steuererhöhungen zum Klimaschutz abstimmen. Die Vertreter beider Gruppen können nun immerhin vor ihre Wähler treten und sagen, dass sie es geschafft haben, zumindest eine politische Forderung durchzusetzen. Diese Tendenz wird verstärkt durch gut organisierte und gezielte Lobbyarbeit, die dort, wo es opportun ist, Anreize für die Interessenvertreter schafft, auch einmal gegen die Interessen der eigenen Gruppe abzustimmen.
Man könnte sagen, dass dies eine Form des strukturellen Staatsversagens ist. Sonderinteressen setzen sich durch und schaffen gebündelte Vorteile für gut organisierte Gruppen auf Kosten der Allgemeinheit. Trotzdem ist man erstaunlich nachsichtig, wenn die Mechanismen des demokratischen Staates suboptimale Ergebnisse zutage fördern. Hier scheint man regelrecht darauf zu pochen, dass eben nichts in der Welt perfekt sei. Vielleicht ist man tief im Inneren auch davon überzeugt, dass die Mehrheit im Zweifel doch nicht recht hat. Der Staat wird dann de facto zum Werkzeug der Sonderinteressen gegen die Allgemeinheit.
Gordon Tullock, Gordon Brady, und Arthur Seldon (2002): Government Failure: A Primer in Public Choice
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