09. Februar 2024 07:00

Falsche Freunde – Teil 6 Kann man sich mit seinem Schlächter verbünden?

Anarchismus und Bolschewismus

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Collections - GetArchive (PDM 1.0 Deed) Leo Trotzki: „Falscher Freund“ der anarchistischen Bauernrebellen in der Ostukraine

Der revolutionäre Marxismus betrat die Bühne der Weltpolitik mit einem Knall: im Oktober 1917. Bis dahin war der Hauptstrom des Marxismus in den reformistischen Gewerkschaften und Parteien geflossen, die auf eine langsame Umwandlung des Staats in einen Sozialstaat setzten. Von einem Lenin hatte nie jemand gehört. Er war unbedeutend. Die Bolschewisten, was in Russisch „Mehrheit“ heißt, waren selbst in der russischen sozialdemokratischen Partei eine unbedeutende Minderheit. Die Mehrheit hatten sie nur auf einem Kongress 1903 erlangt, bei dem die meisten Delegierten an der Teilnahme gehindert worden waren. Lenin hegte eine geringe Meinung von Gewerkschaften, sowohl von den reformistischen als auch den syndikalistischen. Sie würden nur kurzfristige aktuelle Interessen der Arbeiter vertreten, nicht aber die langfristige Perspektive der Befreiung einnehmen können.

Nach der Februarrevolution 1917 in Russland begingen die sie tragenden sozialdemokratischen und sozialrevolutionären Kräfte den Fehler, die Kriegsmüdigkeit des russischen Volks zu missachten und zu entscheiden, in der Koalition der antideutschen Alliierten zu verbleiben. Das war die Chance für Lenin und seine Bolschewisten: Im Oktober putschten sie sich an die Macht und nannten es eine Revolution. Unverzüglich schlossen sie Frieden mit dem Deutschen Reich, um alle verfügbaren Kräfte für ihre innenpolitischen Ziele verwenden zu können.

Lenin hielt als Lippenbekenntnis an dem Versprechen von Marx und Engels fest, dass die Revolution langfristig die Herrschaft des Menschen über den Menschen durch die Verwaltung von Sachen ersetzen werde und der Staat somit „absterbe“. Zunächst aber müsse der Staat seine Herrschaft ins Unermessliche ausdehnen, um alle Relikte der bürgerlichen Gesellschaft beseitigen zu können.

Unmittelbar gingen Lenin und seine Mannschaft daran, sich möglicher Konkurrenten zu entledigen, darunter auch die Anarchisten. Obwohl einige Sozialdemokraten Lenin vorwarfen, ein „Bakunist“ zu sein (weil sie die Ideen von Bakunin fälschlich auf den revolutionären Impuls reduzierten), blieb den Anarchisten in den meisten Regionen gar keine Zeit zu überlegen, ob die Bolschewisten eventuell geeignete Bündnispartner seien. Der Bluthund Lenins zur Vernichtung der Anarchisten hieß übrigens nicht Josef Stalin, sondern Leo Trotzki.

Eine besondere Situation ergab sich in der Region, in der die Anarchisten am stärksten waren und in der sie dem Bolschewismus bis Anfang 1922 entgegentraten: die Ostukraine. Nach ihrem endgültigen Sieg führten die Bolschewisten dort massive Umsiedlungen und ethnische Säuberungen durch, was übrigens zur Vorgeschichte des heutigen Desasters gehört.

Die in der Ostukraine operierenden anarchistischen Bauernrebellen schlossen 1918 bis 1920 in der Tat mit der Roten Armee ein Abkommen, um gegen die Konterrevolution der Weißen standzuhalten. Sowohl die Rote Armee als auch die anarchistischen Bauern hatten keine andere Wahl. Wenn Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee die Anarchisten auch noch so sehr hasste, konnte er es sich dennoch nicht leisten, dort eine zweite Front entstehen zu lassen. Und wenn die anarchistischen Bauern den Bolschewisten auch noch so sehr misstrauten, konnten sie nicht sowohl gegen die Weißen als auch gegen die Roten kämpfen. Für beide Seiten hieß das: Der Feind meines Feindes ist mein (vorübergehender) Freund. Auch eine Koalition der anarchistischen Bauern mit den Weißen stand ganz außer Frage. Die Weißen kämpften für die Beibehaltung beziehungsweise Wiederherstellung des zaristischen Feudalismus.

Nach der Niederlage der anarchistischen Bauern befand sich die Bereitschaft unter den Anarchisten der anderen europäischen Länder, mit den Bolschewisten zu paktieren, auf dem absoluten Nullpunkt. Der italienische Revolutionär Errico Malatesta verglich Lenin mit dem Führer der spanischen Inquisition Torquemada und dem Führer des jakobinischen Tugendterrors nach der Großen Französischen Revolution, Maximilien Robespierre. Wenn man, um siegen zu können, gezwungen sei, Erschießungskommandos durchs Land zu schicken, würde er lieber auf den Sieg verzichten, sagte er. Und so kam es auch, die Faschisten siegten in Italien (die Kommunisten spielten dort keine Rolle).

Aber schon kaum mehr als zehn Jahre später standen die Anarchisten Spaniens vor der gleichen Situation wie in der Ukraine. Nach dem Putsch des faschistischen Generals Franco setzten sich die Gegner aus Anarchisten, Republikanern (Sozialdemokraten) und Kommunisten zusammen. In dem bäuerlich geprägten Andalusien dominierten die Anarchisten, in dem industriellen Katalonien die Anarchosyndikalisten. Die Republikaner fanden sich damit ab. Die Kommunisten spielten in Spanien eine ebenso untergeordnete Rolle wie in Italien. Doch aufgrund des Neutralitätsabkommens der Westalliierten war die stalinistische UdSSR die einzige Quelle für Waffenlieferungen. Aufgrund dessen erhielten die spanischen Kommunisten einen ihrer Anhängerzahl übersteigenden Einfluss. Die Anarchisten ordneten sich nicht unter, sondern organisierten die von ihnen kontrollierten Gebiete in der Weise auf der Grundlage von Freiwilligkeit und Selbstverwaltung, wie sie es immer angestrebt hatten. Auf Befehl Stalins operierten die Kommunisten von nun an vor allem hinter der Front und schwächten den Widerstand gegen Franco und seine italienischen und deutschen Hilfstruppen. Stalin war es auf jeden Fall lieber, dass die Faschisten siegen als die Anarchisten. Das wäre für ihn die eigentliche Katastrophe gewesen. Bis heute liest man freilich in der etatistischen Historiographie, die Anarchisten hätten die Einheitsfront verraten und seien die Spalter gewesen. Stalins Schatten bestimmt noch heute die verzerrte Wahrnehmung und moralische Verurteilung der Anarchisten.

Obwohl also in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine längerfristige Verbündung von Anarchisten mit Bolschewisten (Kommunisten) gar nicht stattgefunden hat, knüpfen die heutigen „linken“ Anarchisten an die verstaubtesten unter den bolschewistischen Parolen aus der Vorkriegszeit an, während die Nachfahren der Bolschewisten längst eine ganz neue (aber keineswegs bessere) Ausrichtung gefunden haben. Es ist, als wenn die Koalition stattgefunden hätte und als ob die Anarchisten im Festhalten an der Klassenkampf-Romantik ihren wahren Kern bewahren würden.

Ich meine hier mit „Klassenkampf“ den Begriff, den der Marxismus-Leninismus entwickelt hat: Die Arbeiter, die als Fabrikarbeiter der höchsten Entfremdung (und Ausbeutung) unterliegen, bilden die Mehrheit der Gesellschaft und sind aufgrund ihrer Einübung in kollektive, hierarchische und zentral gesteuerte Arbeit am besten dazu geeignet, die neue Gesellschaft der befreiten Kollektivität in der Planwirtschaft voranzubringen. Der Klassenkampf im ursprünglichen marxistischen Sinne, dass die qua Staat herrschende Klasse die unterdrückte Klasse ausbeutet und enteignet, ist natürlich nicht am Ende, sondern steht erst am Beginn. Genau hier müsste ein aktualisierter Anarchismus ansetzen, der sinnvoll an die Klassiker anschließt und ihre Analyse in die gegenwärtige sozioökonomische Situation überträgt.


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