2024: Neujahr auf Chinesisch
Wenn der Drache erwacht
von Stephan Unruh
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Die Feierlichkeiten rund um das Frühlingsfest dauern hier insgesamt 15 Tage. Es beginnt mit dem Neujahrsabend, also dem letzten Tag des alten Jahres, chúxī genannt. Der Neujahrstag markierte dann den ersten Tag der Festivitäten und ist das eigentliche chūnjié („Frühlingsfest“). Der Spaß endet mit yuánxioājié, dem Laternenfestival. Da sich das Neujahrsfest am Mondzyklus orientiert, fällt der Neujahrstag normalerweise auf den zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende beziehungsweise nach dem Gregorianischen Kalender auf einen Tag irgendwann zwischen dem 21. Januar und dem 20. Februar. Das Laternenfest wird dann entsprechend vom Vollmond beschienen.
Natürlich sind diese 15 Tage randvoll mit Traditionen, Bräuchen, Tabus, Notwendigkeiten und speziellen Gerichten. Im Norden isst man am Neujahrsabend traditionell Jiǎozí, quasi so was wie Maultaschen in Lecker, im Süden tendiert man zu Klebereiskuchen – dazu braucht man natürlich noch allerlei Varianten von Fisch, Huhn, Schwein, Rind, Gemüse, Nudeln (die alle irgendwas repräsentieren), und auch Alkohol (lieber viel als wenig) darf selbstredend nicht fehlen … An den folgenden Tagen hat man dann Verwandtschaft wie auch Freunde zu besuchen, an einem Tag müssen Geschäftsbeziehungen gepflegt werden, während ein anderer dazu dient, während eines Spazierganges das Glück einzufangen. Auch den Gott des Reichtums muss man bedenken, indem man ihm an einem Tag huldigt, womit auch einer der klassischen Neujahrswünsche „ɡōnɡ xǐ fā cái“ (Werde schnell reich!) verbunden ist. Kleine rote Umschläge (hóng bāo) mit kleinen oder größeren Geldbeträgen (natürlich!) werden an Kinder und Unverheiratete überreicht – ich erhalte also keine, sondern muss im Gegenteil jede Menge ausreichen. Dafür aber bekomme ich dann aber eben jede Menge guter Wünsche, die meistens mit Geld und Gesundheit zu tun haben.
Natürlich gibt es auch jede Menge Tabus. So darf man sich beispielsweise nicht die Haare schneiden, das Haus fegen, bestimmte Farben muss man meiden, aber Rot als Farbe des Glücks sollte zu Chunjie ganz unbedingt getragen werden und, und, und … Als Langnase, die inzwischen seit fast zehn Jahren im Reich der Mitte lebt, habe ich freilich nach wie nur eine recht begrenzte Ahnung, was man alles beachten muss, und ich darf Ihnen versichern: Die Fettnäpfchen sind zahlreich – so löste ich beispielsweise jüngst einen mittleren Ehekrach aus, weil ich mich völlig unbedarft erdreistete, nach dem Restgeld der Böllereinkäufe zu fragen. Ein schwerer Fauxpas, der angeblich Unglück und wirtschaftlichen Misserfolg für ein ganzes Jahr bringt.
Böllern ist natürlich ein weiteres Stichwort. Das machen die Chinesen unwahrscheinlich gerne und ist ein Riesenspaß für Groß und Klein, weshalb es seit dem Neujahrsfest 2009 auch in quasi allen Städten verboten ist. Damals nämlich fing die gerade neu gebaute „Unterhose“, womit der Volksmund das Hauptquartier des Staatsfernsehens CCTV bezeichnet, Feuer – angeblich durch Feuerwerkskörper. Ich war damals vor Ort und die meisten Pekinger zeigten sich davon überzeugt, dass es wenig mit ihrer Feuerwerkswut, sondern vielmehr mit Pfusch am Bau sowie einer kleinen Privatparty einiger (hochgestellter) Sendermitarbeiter und einem vergessenen Grill zu tun hatte. Allerdings wird dafür, dass es ein staatliches Feuerwerksverbot gibt, bemerkenswert viel geböllert. Chinesen sind eben keineswegs so obrigkeitshörig, wie das gerne im Westen kolportiert wird.
Als ich am Neujahrstag von meiner Geschäftsreise in Malaysia zurückkam, lag ob des Pulverdampfs die Sichtweite streckenweise unter 50 Meter. Anstatt aus hölzernen Büdchen wie zu meinen Pekinger Zeiten wird das Feuerwerk nun von fliegenden Händlern auf Klapptischen oder direkt aus dem Auto verkauft. Es gibt, was immer das Herz begehrt und der Geldbeutel hergibt: von kleinen Knallerbsen bis hin zu den ganz großen Feuerwerksboxen für einige Hundert (oder auch Tausend) Yuan, mit denen man dem einen oder anderen professionellen Feuerwerker Konkurrenz machen könnte. Ein großer Unterschied zu Deutschland ist dabei, dass Feuerwerk hier ein Spaß ist – die Betonung liegt dabei auf Spaß. Keinesfalls nutzt man es dazu, Bürgerkrieg zu spielen und gezielt Passanten, Autos oder gar Rettungsfahrzeuge zu beschießen.
Einen explosiven Aufreger gab es allerdings dieses Jahr schon, denn normalerweise ist auch der Neujahrsabend Teil der offiziellen staatlichen Ferien – schließlich versammelt sich an diesem Tag die ganze Familie am Familiensitz (normalerweise irgendein Millionenkaff irgendwo im Hinterland), um gemeinsam ins neue Jahr zu starten. Dafür aber müssen die meisten Familienmitglieder weit reisen (weshalb rund um Chinesischneujahr traditionell die weltweit größte Volkswanderung einsetzt). Dieses Jahr aber verkündete der Pekinger Staatsrat, dass es Unternehmen zwar freigestellt sei, den Arbeitern freizugeben, aber der Neujahrsabend dieses Jahr eben nicht Teil der gesetzlichen Ferien sei, womit man freilich einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Während man die Entscheidung offiziell wirtschaftlich und pragmatisch begründete (die offiziellen „Ferien“ an einem Samstag beginnen zu lassen, sei „sauberer“ und würde wirtschaftliche Abläufe weniger stören), scheint die wahre Ursache doch eher darin zu liegen, dass „chúxī“ phonetisch doch recht ähnlich wie „chú Xí“ klingt, was man mit „Xi, hau ab“ übersetzen könnte – und sagen wir es mal so: Der aktuelle große Steuermann ist nach seiner im Nachhinein betrachtet doch recht verunglückten Anti-Covid-Politik bei Teilen des Volkes nicht mehr ganz so beliebt …
Zwar dürfte die Entscheidung in erster Linie Büroangestellte getroffen haben, denn die meisten Fabriken werden schon früher zugesperrt, schlicht und ergreifend deshalb, weil die meisten Arbeiter traditionell deutlich früher nach Hause gehen (völlig egal, ob ihnen der Arbeitgeber freigibt oder nicht). Dementsprechend konnte ich daher ab etwa Anfang Januar am Guangzhouer Südbahnhof auch eine deutliche Zunahme des Passagieraufkommens sowie einen Wandel des Aussehens eben jener Passagiere wahrnehmen. Kleine, leicht verhutzelte Chinesen mit den traditionellen blau-rot-weiß karierten übergroßen Plastiktragtaschen beziehungsweise Eimerkoffern (also ein haushaltsüblicher Eimer, befüllt mit allem Möglichem) sind inzwischen zu normalen Geschäftszeiten ein eher seltener Anblick geworden. Dennoch scheint die Entscheidung doch Auswirkungen gehabt zu haben – zumindest erzählte mir der Taxifahrer, der mich am Neujahrstag vom Flughafen zurückfuhr, dass sich am an ebenjenem Tag in Guangzhou etwas ereignet habe, was er bisher noch nicht erlebt hätte und eben für Chunjie doch außergewöhnlich sei: nämlich ein veritabler Verkehrsstau.
Mal schauen, was sich die Führung dann für nächstes Jahr ausdenkt. Ihnen allen jedenfalls ein glückliches und erfolgreiches Jahr des Holzdrachens! Unter diesem Zeichen und Element stehen nämlich die kommenden zwölf Monate – und wer in einem Drachenjahr geboren wurde, sollte in diesem Zeitraum bevorzugt rote Unterwäsche tragen, um – Sie ahnen es vermutlich schon – möglichst viel Glück und Erfolg (aka Reichtum) zu generieren. In diesem Sinne: 新年快乐 und 恭喜发财!
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