Freiheit der Popkultur: Plötzlich Staatsfeind
Imad Karim treibt den unzuverlässigen Erzähler auf die Spitze
von Sascha Blöcker
Imad Karim hat einen Spielfilm gemacht, und die Resonanz ist durchwachsen. Dass ausgerechnet ich große Freude mit dem Film hatte, während einige Konservative ihn ablehnten, könnte den einen oder anderen überraschen. Warum ich Spaß mit dem Film habe, erkläre ich Ihnen, aber zuvor möchte ich noch erwähnen, dass ich Imad Karim im Interview hatte und dieses auch hier einfließen lasse.
Handlung
Der Protagonist Oskar Held muss, wie alle anderen „Vielfaltsfeinde“, seine gerechte Strafe bekommen. Der einst erfolgreiche linke Schriftsteller, Bestsellerautor und gefragte Talkshowgast gilt heute als „Abtrünniger“ und „Ewiggestriger“.
Held hatte nämlich gewagt, die ruhmreiche Politik des regierenden „Humanistarischen Volksrates“ in „den Dreck zu ziehen“. Anstatt gemeinsam mit anderen „Kulturschaffenden Werktätigen“ auf den Ausbau des Ökosozialismus hinzuarbeiten, sabotiert Oskar Held den Ökosozialismus, indem er beginnt, seine wichtigsten Eckpfeiler wie Multikulturalismus, Genderrichtlinien und Klimapolitik offen zu kritisieren.
Unter der Herrschaft des „Humanistarischen Volksrates“ geht kein Verurteilter ins Gefängnis, sondern das Gefängnis kommt zu den Verurteilten, und zwar in Form von gesellschaftsgerechter Isolation wie Separierung des Vielfaltsfeindes von seiner gewohnten Umgebung, Familie, Freunden und dem Arbeitsplatz. Verordnung von Erziehungseinheiten in der GedankenEntwirrungsZentrale – GEZ – bis hin zur Einpflanzung von Überwachungs-Implantaten zur Unterbindung weiterer gutmenschenfeindlicher Aktivitäten sind die Strafe.
Oskar Held ist einer von Millionen „Staatsfeinden“ in einem fiktiven Deutschland von morgen oder vielleicht in einem Deutschland von heute. Das muss jeder Zuschauer für sich entscheiden.
Handwerklich
Schauspiel
Imad Karim hat weitestgehend richtige Schauspieler für diesen Film hergenommen, dennoch sehe ich doch hier und da deutliche Schwierigkeiten mit dem Schauspiel, wobei auch das nicht immer ganz klar ist, da wir meiner Meinung nach einen unsicheren Erzähler erleben. Dazu später mehr.
Die Dialoge wirken schon zeitweilig sehr aufgesetzt, aber kann man das kritisieren?
CGI
Ja, der Film hat auch CGI und es wird da angewendet, wo es keine andere Lösung gab. Genau so muss es gemacht werden. Da, wo es eingesetzt ist, da sieht es auch gut aus, trotz des verhältnismäßig kleinen Budgets. Nicht falsch verstehen. Imad hat finanziell alles aufgeboten, was er kennt, aber das ist ja kein Vergleich zu Serien wie She-Hulk aus dem Hause Marvel. Und genau in dieser Marvel-Serie, bei der keine Episode unter fünf Millionen Dollar gekostet hat, sieht das CGI deutlich schlechter aus. Daher gratulierte ich Imad auch zu seinem Werk.
Thema
Der Sound im Film ist großartig. Er ist nahezu perfekt gewählt und wird genau richtig eingesetzt. Er erzeugt Spannung und ein gewisses Unbehagen. Er sprang mir direkt ins Ohr und ist dort auch verblieben.
Der unzuverlässige Erzähler
Als ein Mensch, der Filme liebt, gehe ich in fast jeden Film mit positiven Erwartungen. Ich will eigentlich nie einen schlechten Film gucken. Ihnen, werter Leser, geht es ähnlich. So bin ich also auch an „Plötzlich Staatsfeind“ rangegangen und war die erste Hälfte des Films hin- und hergerissen. Was sehe ich da? Ist das Müll oder ein Meisterwerk? Am Ende des Films wusste ich es immer noch nicht und genau diese Unwissenheit schuf den Moment der Klarheit. Es ist ein Meisterwerk. Er ist das, was ich wollte, ohne dass ich wusste, was ich wollte, obgleich er sich so ansehen lässt, als ob Imad alle meine kritischen Artikel zu Hollywood gelesen hätte, um nahezu keinen dieser von mir mehrfach skizzierten Fehler zu begehen. Wie soll ich es beschreiben? Der Film erklärt mir alles zu Tode, zumindest gaukelt er mir vor, dass er das täte. In Wirklichkeit führt er mich aber an der Nase herum. Imad Karim bedient sich der großartigen Erzählweise des unzuverlässigen Erzählers. Ja genau, so wie Fight Club oder Joker. Genau wie in Joker löst der Film die unzuverlässige Erzählung aber nicht auf. Sie, mein lieber Leser, der auch den Film geschaut hat, Sie müssen selbst dahinterkommen. Die Zeichen sind eindeutig.
An dieser Stelle bitte ich jeden, der den Film nicht gesehen hat, sich diesen erst einmal anzuschauen, denn ab jetzt werde ich verraten, was ich in dem Film gesehen habe, und diese Entdeckungsreise will ich dir nicht kaputtmachen. Also hier der Link: ploetzlich-staatsfeind.de
Sie haben ihn jetzt gesehen? Gut. Spätestens als der Protagonist einen Chip von unvorstellbarer Größe in sein Ohr bekommt, sollte klar sein: Hier stimmt was nicht.
Warum glaubt ihm niemand, dass ein solcher Chip eingesetzt wurde?
Wüssten es die Menschen nicht, wenn derlei Methoden bereits angewendet würden?
Warum wird auf einmal eine Schreibmaschine hervorgeholt? Ist das eine Anspielung auf „Naget Lunch“?
Warum kann er in Ruhe seine Lesung halten?
All diese Fragen lassen nur einen Entschluss zu. Der Erzähler ist unzuverlässig. Ich denke, Oskar Held lebt genau jetzt und eben nicht in einer abstrakten Zukunft. Darauf können wir auch angesichts der Corona-Hilfen schließen. Als kreativer, extrovertierter Schriftsteller hat er vermutlich sehr unter den Coronamaßnahmen gelitten. Meiner Ansicht nach muss das ungefähr der Moment gewesen sein, als sein Hirn die Realität mit seiner kreativen Schriftstellersicht vermischt hat. Ab diesem Moment verschwimmen die Welten und das ist genialer Weise auch der Moment, wo wir als Beobachter dazukommen. Wenn er die Nachrichten sieht, dann sieht er sie eben nicht als normaler Zuschauer (NPC), sondern in einer überspitzten Weise, als wir die Nachrichten sehen. Aber meiner Ansicht nach laufen da die üblichen Nachrichten wie bei ZDF oder ARD.
Wenn er vor Gericht ist, dann sitzt da nicht ein Richter, sondern dreimal derselbe. Sein Hirn schafft hier eine zutiefst libertäre Analogie. Denn es zeigt ihm, dass die angeblich geteilten Gewalten ein und dieselbe Institution sind.
Auch sind die Menschen, die sich mit ihm unterhalten, ständig verwirrt oder überrascht von dem, was er sagt. Ja, natürlich, denn in der Realität macht vieles davon auch keinen Sinn oder wird als haltlose Überspitzung wahrgenommen.
Wenn er seine Lesung hält, dann korrigiert sein Verstand das im Nachhinein, und zwar auf die Weise, dass die Person, die ihn überwacht, jetzt doch nicht mehr systemtreu ist.
Es gibt noch Dutzende weitere Punkte, und sie werden mir nicht erklärt. Danke dafür, Imad, denn du traust mir zu, solche Fragen selbst zu stellen, und gibst mir die Verantwortung, sie selbst zu beantworten. Lange ist es her, dass ein Film mich als Konsumenten so erwachsen behandelt hat, und so will ich auch behandelt werden.
Zum Abschluss bleibt mir nur zu sagen, dass ich mit diesem Film, der natürlich auch Schwierigkeiten hat, unglaublich viel Spaß hatte. Ich habe mit anderen hitzig diskutiert, ob meine Theorie stimmt und wenn ja, wie viel von dem, was wir sehen, echt ist. Ich habe deutlich länger über den Film gesprochen, als der Film Laufzeit hat, und das ist immer ein gutes Zeichen. Filme sollen uns genau wie Bücher zum Denken und Diskutieren anregen, und bei mir hatte „Plötzlich Staatsfeind“ damit vollen Erfolg.
Kommentare
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