Kapitalismus: Die Mär vom Marktversagen
Über ein rein subjektives Urteil
von Olivier Kessler

Für alle auftretenden Probleme wird heute der immer gleiche Sündenbock verantwortlich gemacht: der Kapitalismus mit seinen freien Märkten. Diese Märkte würden im großen Stil versagen, wenn man sie sich selbst überlassen würde, heißt es. Es kämen dabei nicht jene Ergebnisse heraus, die für die Menschen vorteilhaft seien. Solches Marktversagen gelte es deshalb durch staatliche Interventionen zu „korrigieren“.
Ob die Behauptung, Märkte würden versagen, korrekt ist oder nicht, erkennt man, wenn man sich einmal verdeutlicht, was diese Märkte überhaupt sind. Ein freier Markt ist nichts weiter als die Gesamtheit aller Austauschhandlungen, die friedlich (das heißt, niemand kommt dabei zu schaden) und freundlich (das heißt, man stellt nicht nur sich selbst, sondern auch den Tauschpartner besser) ablaufen. Es handelt sich ausschließlich um Tauschbeziehungen, die auf Freiwilligkeit basieren und folglich im Interesse aller Beteiligten sind. Sind Gewalt und Zwang im Spiel, so ist nicht von einem Markttausch zu sprechen, sondern von einem Verbrechen, das geahndet werden muss.
Wie bitte sollen nun friedliche und freundliche Tauschhandlungen im breiten Stil „versagen“? Licht ins Dunkel kommt, wenn wir uns vergegenwärtigen, was mit „versagen“ überhaupt gemeint ist. Aus Sicht des Bewertenden „versagt“ der freie Markt dann, wenn die Ergebnisse nicht so ausfallen, wie er sich das wünscht. Wenn also der Bewertende zum Beispiel ein Anbieter von Solaranlagen ist oder Solarstrom besser findet als andere Energiequellen, so „versagen“ aus seiner Sicht vielleicht dann die Märkte, wenn es Marktteilnehmer gibt, die aus welchen Gründen auch immer eine Ölheizung bevorzugen. Doch dieses Urteil, wonach der Markt „versagt“, ist rein subjektiver Natur und keine objektive Tatsache. Mit dem Vorwurf des „Marktversagens“ und der Forderung nach staatlichen Verboten von Ölheizungen wollen die Ankläger vertuschen, dass sie in Wahrheit einen Machtanspruch erheben: Sie wollen anderen vorschreiben, wie diese zu leben haben. Das behauptete „Marktversagen“ ist dann eine willkommene Rechtfertigung für deren Angriff auf ihre Mitbürger, die man unter Androhung oder Anwendung von Gewalt am liebsten zu einem anderen Verhalten nötigen möchte.
Ein „Marktversagen“ wird auch gerne dort behauptet, wo angeblich ohne staatliche Gewaltandrohung „zu wenig“ von einem angeblich „nützlichen“ und „nachgefragten“ Gut produziert würde (in der Ökonomie spricht man von sogenannten „meritorischen Gütern“, wobei das keine exakte Wissenschaft ist, sondern einzig im Auge des Betrachters liegt). Der Staat müsse deshalb zum Beispiel im Bereich des Gesundheitswesens, der Bildung, der Medien oder der Infrastruktur sicherstellen, dass das Angebot nicht zu knapp ausfalle. Doch auch hier stellt es eine Anmaßung des Beurteilenden dar, objektiv festlegen zu wollen, welche Menge von einem Gut die richtige ist.
Wenn also zum Beispiel Lehrer von Staatsschulen oder Journalisten von staatlich subventionierten Medien behaupten, ihre Löhne würden auf einem freien Markt zu tief ausfallen, so bezieht sich das „zu tief“ lediglich auf ihre eigenen Präferenzen, nämlich nach einem möglichst guten Einkommen. Ausgeklammert wird die Gegenseite der Medaille: nämlich die Tatsache, dass erzwungene höhere Saläre für Staatsangestellte ein größeres finanzielles Loch im Portemonnaie der Steuerzahler hinterlassen.
Der staatlich unberührte Marktpreis bringt die individuelle Wertschätzung für ein spezifisches Gut oder eine spezifische Leistung zum Ausdruck. Menschen sind – einmal abgesehen davon, dass sie bestimmte Grundbedürfnisse befriedigen müssen, um zu überleben – voneinander grundverschieden. Sie haben unterschiedliche Perspektiven auf die gleichen Dinge und bewerten die gleichen Dinge unterschiedlich. Im Englischen gibt es dafür eine schöne Bezeichnung: „One man’s trash is another man’s treasure.“ Die unterschiedliche Bewertung kommt von der unterschiedlichen Zielsetzung her. Was uns den eigenen Zielen näher bringt, bewerten wir höher als andere Dinge, die uns nicht groß weiterhelfen.
Wenn wir zum Beispiel seit zwei Tagen durstig durch eine heiße Wüste irren und dann auf einen Getränkehändler treffen, sind wir vermutlich bereit, fast unser ganzes Vermögen herzugeben, um eine Wasserflasche zu kriegen. Denn diese bringt uns unserem Ziel, das eigene Überleben zu sichern, näher, als wenn wir sie nicht kaufen würden. Je näher wir dem Tod sind, desto mehr sind wir bereit, für die Wasserflasche zu bezahlen, weil wir unser Geld ja nicht ins Jenseits mitnehmen können. Auf der anderen Seite wird jemand, der nicht durstig ist und seinen Bedarf auf absehbare Zeit gut stillen kann, nicht dazu bereit sein, viel Geld für dieselbe Wasserflasche zu bezahlen. Der Wert eines Gutes liegt also nicht im Gut selbst (und auch nicht in der Arbeitszeit, die zur Herstellung des Gutes notwendig war, wie Marx behauptete), sondern in der subjektiven Wertschätzung von Individuen.
Der Marktpreis ist ein Aushandlungsergebnis von Angebot und Nachfrage. Wenn man sich preislich findet, so kommt es zum Austausch. Der Marktpreis ist also ein Ergebnis, mit dem alle Vertragsparteien leben können – ansonsten hätten sie den Vertrag ja nicht freiwillig abgeschlossen. Wenn ein einziger Akteur eine Bewertung vornimmt hinsichtlich dessen, was er glaubt, dass dies die richtigen Prioritäten der Wirtschaft und die richtigen Mengen, die von einer Sache hergestellt werden sollten, seien, so ist das eine Sache. Eine andere Sache ist, was im Aushandlungsprozess der vielen herauskommt, in den nicht nur ein Urteil einfließt, sondern die Urteile aller Beteiligten.
Wenn jemand behauptet, „der Markt“ setze nicht die richtigen Prioritäten und stelle die Dinge in falscher Menge her, so ist das sein subjektives Urteil. Eine solche Perspektive ist letztlich eine egozentrische, weil sie von den eigenen Werten auf das große Ganze schließt: „Ich – und nur ich – weiß, was der korrekte Produktionsschwerpunkt ist und in welcher Menge etwas hergestellt werden muss.“ Den anderen wird dieses Wissen nicht zugetraut und – wenn man ein „Marktversagen“ anführt – auch eine Stimme im Aushandlungsprozess verweigert. Vielmehr will man seine höchst subjektive Sicht der Dinge mit staatlicher Gewalt durchsetzen, was man dann euphemistisch „Korrektur des Marktversagens“ nennt. Dabei lässt man auch gerne außer Acht, welche ungewollten Nebenwirkungen entstehen, wenn der Staat versucht, mit seinem Machtwort das Gefüge zugunsten jener zu verschieben, die die Staatsgewalt direkt oder indirekt beeinflussen. Es entstehen zum Beispiel Schwarzmärkte, auf denen in der Illegalität getauscht wird.
Ein freier Markt versagt nicht. Er bringt lediglich die unterschiedlichsten Bedürfnisse, Präferenzen und Ziele verschiedenster Individuen miteinander in Einklang. Es ist ein friedlicher Aushandlungsprozess zwischen Menschen mit verschiedensten Interessen.
Die Entstehung respektive das vermehrte Tolerieren freier Märkte ist historisch für den Aufstieg der Lebensstandards in den letzten 200 bis 300 Jahren nicht zu unterschätzen: Erstmals wurde es in breitem Stil möglich, seine Lebenssituation nicht dadurch zu verbessern, indem man andere Menschen ausraubt und fremde Länder plündert, sondern indem man mit ihnen zu handeln begann. So gewinnen alle. Wenn man anderen dabei hilft, ihre Situation zu verbessern, (indem man diese nützlichen Produkte und Dienstleistungen anbietet, die diese benötigen), verbessert man seine eigene Lebenssituation (indem man dafür Geld erhält, das man wiederum für den Bezug von Waren und Dienstleistungen ausgeben kann, die man selbst wertschätzt). Die freie Marktwirtschaft verdient deshalb unsere Wertschätzung, nicht unsere Verachtung, weil ihr Beitrag für Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht genug betont werden kann.
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