Zwangsabgaben: „Privatiers“ schulden der Gesellschaft nichts
Wieso „friedliche Reiche“ eine Bereicherung für ihre Mitmenschen sind und kein Problem
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
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In der „Zeit Online“ vom 27. Januar durften wir lesen, dass es ein Problem für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat sei, dass in Deutschland fast eine Million Menschen von ihrem Vermögen leben können. Der Artikel ist hinter der „Bezahlschranke“, aber das Anlesen und ein Tweet des Autors Marcel Fratzscher reichten mir, um ein Gespür dafür zu bekommen, auf was er hinauswill. Die Onlineplattform Statista habe mit der Überschrift „809.000 Deutsche müssen nicht arbeiten“ eine „Welle der Empörung ausgelöst“, dürfen wir erfahren. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hat sich diese Zahl seit 2010 fast verdoppelt, weiß der Autor.
Dass in Deutschland über 2,6 Millionen arbeitslos sind, dass über 1,7 Millionen eine oft stattliche Pension genießen, 17,6 Millionen eine im Durchschnitt eher kümmerliche Altersrente erhalten, 6,6 Millionen Menschen Sozialhilfe beziehen und 5 Millionen im öffentlichen Dienst alimentiert werden, wurde in diesem Zusammenhang wahrscheinlich nicht aufgegriffen. Eine Anmerkung bezüglich der Rentner: Sicherlich, sie wurden, als sie arbeiteten, zur Zahlung der damaligen Rentner gezwungen, aber es handelt sich bei der Umlagefinanzierung eben nicht um eine kapitalgedeckte Rente, sondern die heutigen zwangsversicherten Arbeitnehmer bezahlen die Renten der aktuellen Rentner. Den Rest bezahlen die Netto-Steuerzahler über den staatlichen Zuschuss.
Zusammengenommen sind das rund 33,5 Millionen Menschen, die nicht von „ihrem Vermögen“ leben, sondern vom „Vermögen anderer“. Denn letztlich ist das Vermögen der Netto-Steuerzahler der Barwert ihrer abgezinsten Einkommen, und da sie Zwangsabgaben auf Einkommen, Dividenden, Energie, Einkäufe et cetera zahlen, wird ihr Vermögen ganz offensichtlich geschmälert. Dass die Finanzierung des Einkommens der besagten 33,5 Millionen Menschen erzwungen wird, finden viele Menschen „unproblematisch“. Handlungslogisch liegt bei Zwangsabgaben zwar eine feindliche Handlung vor, wie ich bereits in meiner Kolumne „Eine Vermögensabgabe ist nicht gerecht, sondern unsozial“ ausführlicher beschrieben habe, aber aus der Handlungslogik als Wissenschaft folgt eben nicht, dass man das nicht „wollen sollte“. Auf Twitter ist dann eine heftige Diskussion entbrannt. „Der Gesellschaft“ entgingen so Talente, man müsste diese Leute zum Arbeiten „bringen“ (sprich: so arm machen, dass sie eben nicht mehr von ihrem Vermögen leben können), wo bleibe da die Chancengleichheit, hier könne man doch nicht von Leistungsgerechtigkeit sprechen und so weiter. Weil dies eine praxeologische Kolumne ist, wollen wir es heute genauer wissen.
Zunächst, wie bereits ausführlich dargestellt in der oben genannten Kolumne: „Die Gesellschaft“ gibt es nicht als handelndes Wesen, so wie es Menschen aus Fleisch und Blut gibt, sondern es ist ein gedankliches Konzept. Die Gesellschaft besteht aus den Einzelnen, die natürlich auch gemeinsam und auch gegeneinander handeln können. Sie können sich freiwillig austauschen, was a priori zu „Win-win“-Situationen und sogenannten Pareto-Optima führt (das heißt, allen Beteiligten geht es besser, ohne dass es einem schlechter geht). Oder sie können einander bedrohen und Zwang einsetzen, um Austausch zu erwirken, was von vornherein zu „Win-lose“-Situationen führt (einigen geht es schlechter, andere profitieren davon, eine sogenannte Pareto-Verschlechterung).
Der Philosoph und Ökonom Anthony de Jasay (1925–2019) erkannte, dass der Glaube, der „Grundstock des Wohlstandes“ gehöre „der Gesellschaft“ tief im postmodernen Bewusstsein verankert ist. Dabei ist die Antwort eigentlich sehr simpel: Die einzelnen Beiträge können sehr wohl „zurückverfolgt“ und „aufgedröselt“ werden. Haben Menschen ihr Vermögen durch freiwilligen Austausch erwirtschaftet, dann verbleibt kein Residuum, kein „Rest“, der noch der Gesellschaft geschuldet würde. Wenn alle Verpflichtungen erfüllt wurden, dann wurde „für alles bezahlt“. Der Produzent, der Erfinder, der Müllmann, der (Privat-)Lehrer: Alle haben etwas dafür erhalten und erhalten etwas dafür, dass sie am Prozess des gesellschaftlichen Austausches teilnehmen. Jeder hat etwas gegeben oder geleistet und dafür etwas erhalten, was er sogar höher bewertet hat, denn ansonsten hätte er den Austausch nicht freiwillig durchgeführt. „Es gibt keinen weiteren, überhängenden Anspruch ‚der Gesellschaft‘, der nicht bereits abgegolten wurde, und es kann niemand verlangen, dass ein zweites Mal bezahlt werden müsste“, so Anthony de Jasay.
Diejenigen, die ihre Einkünfte aus Zwangsabgaben erhalten und die oftmals diesen „Anspruch der Gesellschaft“ propagieren, haben im Sinne Anthony de Jasays hingegen „noch nicht bezahlt“. Sie beteiligen sich nicht am wertschöpfenden freiwilligen Austausch, sondern was sie aus dem „Steuertopf“ herausnehmen, müssen andere erst hineinlegen.
Reiche oder Vermögende in einer Gesellschaft sind auch kein „Problem“ für ihre Mitmenschen, wenn sie ihr Vermögen auf freundliche Art und Weise (freiwilliger Austausch) erwirtschaftet haben, sondern im Gegenteil: Da freiwilliger Austausch nur stattfindet, wenn das Angebotene höher bewertet wird als dasjenige, das dafür aufgegeben wird, hat ein Reicher seine Mitmenschen noch mehr bereichert als sich selbst.
Zudem sagt uns schon das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, dass wir uns – sofern uns mehr Wohlstand lieber ist – besser einen reichen Nachbarn wünschen sollten als einen Armen, denn mit jeder zusätzlichen Einheit Geld kann sich der Reiche nur weniger drängende Bedürfnisse erfüllen, sodass er tendenziell eher bereit ist, etwas von seinem Vermögen abzugeben, um etwas anderes dafür zu erhalten. Und tatsächlich findet ökonomisch motivierte Migration empirisch gesehen in der Regel nicht in Länder statt, wo man eine ärmere Nachbarschaft erwartet, sondern dorthin, wo man mit reicheren Nachbarn rechnet. In einer wohlhabenden Gesellschaft können auch Menschen mit relativ geringerer Qualifikation einen höheren Lebensstandard haben. Es ist kein Zufall, dass eine Reinigungskraft in der Schweiz mehr Einkommen erzielt als in einer weniger wohlhabenden Region, sondern es ist deswegen so, weil es in der Schweiz relativ mehr Wohlstand gibt als in vielen Ländern dieser Welt.
Etwas anderes ist natürlich dann der Fall, wenn der Reiche sein Vermögen nicht mit ablehnbaren Angeboten erworben hat, sondern unter Einsatz von Zwang. Hier handelt es sich tatsächlich um ein „Nullsummenspiel“ in dem Sinne, dass der eine etwas auf Kosten und zu Lasten anderer erhält. Wir wissen nicht, „wie sehr“ die Betroffenen unter ihrer Verarmung zu Gunsten anderer leiden, wir wissen lediglich, dass derjenige, der bezahlt, das angedrohte Übel, etwa Geldstrafen oder Haft, als noch schlechter bewertet als zu bezahlen. Zu solchen Reichen gehören nicht nur die, die unmittelbar die Abgaben erzwingen, sondern auch diejenigen, die mittelbar davon profitieren, etwa durch Aufträge, die mit Mitteln bezahlt werden, die aus Zwangsabgaben stammen. Oder auch Reiche, denen mittels Regulierung, Zöllen, Sanktionen, Mengeneinfuhrbeschränkungen et cetera die Konkurrenz vom Leibe gehalten wird (und dies wird aus den Zwangsabgaben finanziert). Derartige Reiche möchte so mancher vielleicht nicht in seiner Nachbarschaft haben, aber man kann sich seine Nachbarn eben nicht immer aussuchen.
Zum Abschluss noch ein „Disclaimer“: Die Praxeologie, also die Handlungslogik, ist das nüchterne wertfreie Schließen aus der selbstevidenten Tatsache, dass der Mensch handelt. Wir können Handeln a priori danach kategorisieren, ob es sich bei zwischenmenschlichen Handlungen um feindliche, freundliche oder zumindest friedliche Handlungen handelt. Wir sehen, wann es zu „Win-win“-Situationen kommt und wann zu „Win-lose“-Situationen. Aus der Praxeologie folgt aber nicht, dass sich ein Mensch friedlich oder freundlich gegenüber seinen Mitmenschen verhalten „sollte“. Bereits der Doktorvater Ludwig Erhards, Franz Oppenheimer (1864–1943), erkannte, dass es neben dem ökonomischen Mittel (freiwilliger Austausch) auch das politische Mittel zur Erzielung von Einkünften gibt: Das Bewirtschaften des Menschen mit dem politischen Mittel Zwang.
Oppenheimer sprach auch vom „Imkerprinzip“, weil man den „Bienen“ immerhin so viel lasse, dass sie weiter Überschüsse produzieren können. Das sei schon ein gewisser Fortschritt gegenüber dem Prinzip, das Oppenheimer als das „Bärenprinzip“ bezeichnete, wonach der Honig komplett weggenommen und der Bienenstock unter Umständen dabei auch noch zerstört wird. Und Fakt ist: Wohl die meisten Menschen finden an beiden Geschäftsmodellen, dem ökonomischen und dem politischen (und deren Kombination), nichts „Verwerfliches“, ja kritisiert wird eher noch das ökonomische. Und sieht man, wie populär anti-kapitalistische Aktivisten gerade medial begleitet und wie die Themen befeuert werden, von denen diese Aktivisten beseelt zu sein scheinen – soweit sie nicht gerade „privat“ auf Bali weilen –, dann bekommt man den Eindruck, dass der Wille derjenigen, die aktuell das Sagen in Politik, Medien und Bildung haben, eher dahin geht, das politische Geschäftsmodell zu Lasten des ökonomischen weiter auszudehnen.
Quellen:
Auf dem Weg in die Gesellschaft der Privatiers (ZEIT)
Tweet „809.000 Deutsche müssen nicht arbeiten“ (Marcel Fratzscher)
Entwicklung des Arbeitsmarktes 2023 in Deutschland (Bundesagentur für Arbeit)
Anteil der Empfängerinnen und Empfänger sozialer Mindestsicherungsleistungen 2021 auf 8,0 % gesunken (Destatis)
Eine Vermögensabgabe ist nicht gerecht, sondern unsozial (Andreas Tiedtke)
Zu Anthony de Jasay: Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke), S. 307 f., mit Quellenangaben
Zu Franz Oppenheimer: Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke), S. 133, 354, 380 ff., mit Quellenangaben
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