26. April 2024 10:00

Weltliteratur Nachbemerkungen

80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 17)

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: oneinchpunch / Shutterstock Unmenschlichkeit während Corona-Plandemie: Im Namen der öffentlichen „Gesundheit“ weggesperrt und zur Einsamkeit verurteilt

Während der Wochen, in denen ich die vorangegangenen Abschnitte formulierte, dachte ich oft an die schelmische Frage Odo Marquards, wozu es überhaupt der Hermeneutik bedürfe, um zu erfahren, was der Inhalt eines Textes sei, sofern man doch den Text selbst besitze und ihn also auch einfach lesen könne. Gleiches ließe sich für die Einführung in ein Buch der Weltliteratur sagen, das natürlich ohne Weiteres für sich selbst sprechen kann. Erst recht aber ließe es sich über ein Werk sagen, über das es bereits eine unübersehbare Vielzahl von gelehrten Besprechungen, Zusammenfassungen, Kommentierungen und Erörterungen gibt, das von inzwischen mehreren Generationen rezipiert und in internationalen Foren kenntnisreich debattiert worden ist. Was also motiviert – und legitimiert – diese neuerliche Einführung in das Buch?

Äußerer Anlass zu dieser rückblickend kommentierenden Buchbesprechung aus dem Jahre 2024 in das Jahr 1944 ist natürlich zunächst der 80. Geburtstag des Werkes (dessen Publikation übrigens von den ersten drei angefragten Verlagen abgelehnt worden war). Doch mit dieser runden Zahl erschöpft sich der aktuelle Anstoß zur Thematisierung nicht. Der Jubiläumsaugenblick fällt vielmehr auch zusammen mit einem Moment, in dem sich Menschen im sogenannten Westen – teils offen einräumend, teils verschämt schweigend – mit der Frage auseinandersetzen: Was ist während der soeben gesehenen „Pandemie“ der Jahre 2020 bis 2023 mit uns, mit unserer Ordnung und unseren Werten, mit unseren Institutionen und mit unseren Konventionen geschehen? Wie konnte es sein, dass wir fast sämtliche, mit großem Ernst und kleinteiliger Akribie über Jahrzehnte errichteten Bollwerke zum Schutze unserer Menschen- und Bürgerrechte binnen weniger Wochen einstürzen sahen?

Insbesondere alle im Sinne Hayeks freiheitlich denkenden Menschen müssen ihren Gesellschaften ein beklemmendes weiteres Mal einen irritierend unreflektierten Rückfall in einen vormoder en, archaisch-kollektivistischen Habitus attestieren. Hinter der proklamierten Monstranz, Leben und Gesundheit besonders der Schwächsten zu schützen und die abstrakten Systeme der Gesundheitswirtschaft funktionsfähig zu erhalten, wurden Einzelne mit ihren Schicksalen vollends vergessen. Das (mit verfassungsgerichtlichem Segen) staatlich zum Stillstand gebrachte Leben vergaß alles individuelle Leid. Senioren starben in Quarantäne und Präfinale sogar in palliativer Isolation mutterseelenallein einsame Tode. Das Bildungssystem entkoppelte Kinder wie Jugendliche von ihren unwiederholbaren Entwicklungsfortschritten. Im Gleichschritt wurden mit staatlicher Macht millionenfach wirtschaftliche Existenzen zerstört. Die Anmaßung von (vermeintlich einzig zutreffendem) Wissen in den Behördenzentralen ging einher mit der Abwertung aller Kritik, kam diese auch noch so qualifiziert und kompetent daher. Der regierungsamtliche Befehl, „der“ Wissenschaft zu folgen und Anordnungen „überhaupt nicht infrage stellen zu dürfen“, markierte nicht mehr nur ein in der Gesamtschau minderrelevantes, postmodernes und postdemokratisches Intermezzo, sondern er rüttelte mutmaßlich längerfristig schadenstiftend an den verlässlich gedachten Grundfesten der westlichen Demokratien. Die Gegenwart hat eine Vorstellung davon bekommen, was Hayek im neunten Kapitel als die „Sicherheit der Kaserne“ beschrieb.

Der gesundheitshygienische Impetus zur gesellschaftlichen Refeudalisierung zielte mit seinen bedingungslosen Imperativen auf eine vormoderne Hörigkeit der nun pandemischen Untertanen. Der gerade noch als üblich gelebte Moralstandard im konkreten Verhältnis von Mensch zu Mensch wurde im Namen des propagandistisch riesenhaft überzeichneten sozialen Gewissens unter einer allgemeinen Emphase der Empörung niedergedrückt und verzwergt. In diesen Abläufen blitzt nicht nur kurz und vorübergehend abbildgetreu die Beschreibung Hayeks aus dem 14. Kapitel seines „Weges zur Knechtschaft“ auf. Der im englischen Original des Buchtitels „Serfdom“ genannte Zustand des entmündigten Knechtes wurde ebenso unvermittelt wie konkret schmerzlich greifbar: Der nun auch vor den rechtsstaatlichen Richtertischen plötzlich unhinterfragbar zum „potenziell asymptomatischen Superspreader“ deklarierte Einzelne fand sich ohnmächtig in der verordneten Einsamkeit seiner gesundheitsamtlich verfügten Absonderung am Ende eines Weges – seines Weges zur Leibeigenschaft. Denn der Leib des Einzelnen ist in einer Pandemie nicht mehr nur die äußere Behausung seines eigenen Willens und seiner unantastbaren Würde, sondern er ist hier – auf das rein Körperlich-Materielle reduziert – eine mögliche Gefahrenquelle, die jetzt unter kollektive Verfügungsgewalten fällt, und sei der Betroffene auch noch so sehr nachweislich kerngesund.

In den historischen Abläufen der fortschreitenden Industrialisierung und den von Hayek dabei vielfach mahnend beschriebenen Konsequenzen des Szientismus droht der Einzelne mit seiner personalen Würde seit jeher unterzugehen. Hayeks Warnung vor den malmenden Kräften des totalen Staates, vor seiner Amoralität und der unkritischen Selbstherrlichkeit seiner Protagonisten reichte weit über das Jahr 1944 hinaus. Sein Plädoyer für die staatliche Garantie dezentraler Freiheitsräume, für den gesetzlichen Respekt vor den Möglichkeiten spontaner Ordnungen und sein Appell, eigene Überzeugungen stets demütig für neue, abweichende Erkenntnisse offenzuhalten, hat die Wiederherstellung des kriegszerstörten Europas nach 1945 wesentlich beeinflusst. Das Jahr 2024 markiert daher nicht zuletzt deswegen auch ein weiteres, 50. Jubiläum: Im Jahr 1974 wurde FriedrichA. von Hayek für seine Arbeiten mit dem Nobelpreis geehrt.

Die Sirenengesänge eines anstrengungsloses Glück verheißenden Kollektivismus haben jedoch in den letzten Jahren und Jahrzehnten wieder merklich an Lautstärke gewonnen. Aktuell will scheinen, dass drei Faktoren das gegenwärtige Weltbild der Menschen jedenfalls im Westen wesentlich prägen: Erstens sind inzwischen alle Menschen gestorben, die noch unmittelbar Zeugnis über die Grauen des Krieges in Zentraleuropa geben konnten; damit gehen eine in ihren möglichen Konsequenzen nicht ansatzweise realistisch abgeschätzte neue Aggressivität und rhetorische Kriegsbereitschaft einher. Zweitens sind die Erinnerungen an den vor einer Generation zusammengebrochenen Ostblock mit seinen zentralverwalteten Mangelexzessen verblasst; damit geht eine neue Bereitschaft einher, den Heilsversprechungen staatlich-hoheitlicher Wirtschaftsplanung neuen Glauben zu schenken. Drittens haben die weltweit seit rund 30 Jahren gedeihlich kooperierenden Märkte den Menschen einen Wohlstand ermöglicht, der Hunger und Frieren, Leid und Mangel, Verteilungskämpfe und Konflikte um Knappheiten vergessen ließ; damit einher geht eine weithin luxuriöse Weltsicht, die den Kult eines priorisierten Umweltschutzes leben will und natürliche Widrigkeiten nicht mehr als existenzgefährdend erkennt. Dieser dreifache Anschein einer ewigen Behaglichkeit und Gefahrlosigkeit scheint die Ursache dafür zu sein, eher unwirkliche Risiken wie die von Atemwegserkrankungen überzubetonen. Gut meinende Menschen mit den besten Absichten folgen Anführern, die sich der epistemologischen Verengungen und der praxeologischen Hindernisse zentralisierter Steuerungssysteme nicht ansatzweise gewahr sind. Ihr Glaube an bewusste und gewollte Planung sozialer Systeme ist ebenso ungebrochen wie unbegründet. Es lohnt, ihnen mit Hayek zuzurufen: „Das Problem, wie Galaxien oder Sonnensysteme entstehen und wie die resultierende Struktur aussieht, ist den Problemen, denen sich die Sozialwissenschaften gegenübersehen, sehr viel ähnlicher als jenes der Mechanik. Für das Verständnis der methodologischen Probleme in den Sozialwissenschaften ist daher ein Studium des Vorgehens von Geologie oder Biologie sehr viel lehrreicher als das der Physik. Auf allen diesen Gebieten können die Strukturen oder stabilen Zustände, die wir studieren, die Art der Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen, nur erklärt werden, wenn auch die Umstände berücksichtigt werden, die nicht Merkmale der Strukturen selbst sind, sondern besondere Umweltgegebenheiten, in denen sich die Strukturen entwickelt haben und fortbestehen. Gesellschaften unterscheiden sich von einfacheren komplexen Strukturen durch die Tatsache, dass ihre Elemente selbst komplexe Strukturen sind, deren Chance, sich zu erhalten, davon abhängt, Teil der umfassenderen Struktur zu sein. Wir haben es hier also mit einer Integration auf zumindest zwei verschiedenen Ebenen zu tun: einmal, wenn die umfassendere Struktur zur Erhaltung geordneter Strukturen auf der niederen Ebene beiträgt, zum anderen, wenn die Art der Ordnung, die auf der niederen Ebene die Regelmäßigkeiten individuellen Verhaltens bestimmt, zu den Überlebenschancen der Individuen durch ihre Wirkungen auf die Gesamtordnung der Gesellschaft beiträgt. Dies bedeutet, dass das Individuum mit spezieller Struktur und Verhaltensweise seine Existenz in dieser Form einer Gesellschaft besonderer Struktur verdankt, weil es nur innerhalb einer solchen Gesellschaft für jenes vorteilhaft war, einige seiner eigentümlichen Eigenschaften zu entwickeln, während die Gesellschaftsordnung wiederum ein Ergebnis dieser Regelmäßigkeiten des Verhaltens ist, die die Individuen in der Gesellschaft entwickelt haben. Das schließt eine Art von Umkehrung in der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in dem Sinne ein, dass die Strukturen, die eine bestimmte Ordnung aufweisen, deswegen auftreten werden, weil die Elemente dasjenige tun, was notwendig ist, um das Fortbestehen der Ordnung zu sichern.“

Dass Hayek diesen Text zu „Bemerkungen über die Entwicklung von Systemen von Verhaltensregeln“ erst 22 Jahre nach dem „Weg zur Knechtschaft“ formuliert hat, versteht sich aus dem beschriebenen Betrachtungswinkel wie auch aus dem sprachlichen Duktus von selbst. Aber auch schon 1959 beschrieb er die Hybris von Gesellschaftslenkern über „Bewusste Lenkung und die Entwicklung der Vernunft“ sehr deutlich: „Die allgemeine Forderung nach ‚bewusster‘ des sozialen Geschehens ist der Ausdruck des eigentümlichen Geistes unserer Zeit. Dass etwas nicht bewusst als Ganzes gelenkt wird, wird schon an und für sich als ein Mangel und als ein Beweis seiner Irrationalität und der Notwendigkeit betrachtet, an seine Stelle einen bewusst entworfenen Mechanismus zu setzen. Doch scheinen von den Leuten, die den Ausdruck ‚bewusst‘ so freigiebig gebrauchen, nicht viele zu erfassen, was er bedeutet; die meisten scheinen zu vergessen, dass ‚bewusst‘ oder ‚mit Willen‘ Ausdrücke sind, die nur dann einen Sinn haben, wenn sie auf Individuen angewendet werden, und dass das Verlangen nach bewusster Lenkung daher gleichbedeutend ist mit der Forderung nach Lenkung durch einen Einzelnen.“

Je komplexer und je komplizierter Lebensverhältnisse werden, desto vitaler muss das Interesse aller an Menschenwürde interessierten Beteiligten sein, Pluralität und Diversität zuzulassen, statt sich auf die Richtigkeit einer monistisch-zentralen Steuerung zu verlassen. Dezentralität in der Koordinierungsmethodik wird in der Unübersichtlichkeit von Situationen am Ende gar schlechterdings zu einer „Lebensfrage“; so bezeichnet Hayek es im vierten Kapitel seines „Weges zur Knechtschaft“. Totale Übertreibungen und überzeichnete Unmöglichkeiten wie „Zero Covid“ oder „Zero Emission“ münden – wie gesehen – schnell in ganz handgreifliche Überlebensfragen.

Nach allem ersetzt die hier tunlichst knapp gehaltene Einführung in das Werk nicht seine Lektüre insgesamt. Sie soll vielmehr die unveränderte Aktualität und Relevanz der dortigen Erläuterungen darstellen. „Der Weg zur Knechtschaft“ ist kein altes, überholtes Buch, sondern ganz im Gegenteil ein herausragend hellsichtiges und bedeutsames Werk. Im besten Falle macht die Besprechung in einer Zeit der hyperkurzen Aufmerksamkeitsspannen nicht nur neugierig auf das Original, sondern gibt auch späteren Generationen eine Vorstellung davon, wie das Buch im Jahr 2024 rezipiert und verstanden wurde. Hans-Georg Gadamer beschrieb die Aufgabe der Hermeneutik unter anderem damit, dass zwischen dem historischen Autor und dem späteren Rezipienten eine „Horizontverschmelzung“ zu bewerkstelligen sei: Was das Wissen des Urhebers ausmachte, muss mit dem Wissen des Lesers in ein gemeinsames Verständnis gehoben werden, um nicht aneinander vorbeizukommunizieren. Künftige Leser dieser Einführung werden insoweit eine dreifache Horizontverschmelzung zu leisten haben. Hoffentlich mit Gewinn.

Grundlage der hier auf Deutsch zitierten Passagen des ursprünglich auf Englisch publizierten Werkes ist die Übersetzung von Eva Röpke aus dem Jahr 1945. Die Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft hat diese Version in Kooperation mit dem Verlag Mohr Siebeck und unter der Federführung von Manfred E. Streit im Jahr 2004 – also vor genau 20 Jahren, ein drittes Jubiläum – nochmals publiziert. Ich habe mir für mein hier ganz unwissenschaftliches Publikationsvorhaben allerdings die Freiheit genommen, die Übertragungen Eva Röpkes nochmals nach heutigen Sprachüblichkeiten aktualisierend zu modifizieren. Wo sie etwa von „Kontrahenten“ spricht, habe ich die Benennung als „Vertragspartner“ vorgezogen; aus der heute eher unvertrauten „Obrigkeit“ sind die „Regierung“ oder der „Staat“ geworden, um so irreführende gegenwärtige Assoziationscluster beim Verständnis zu vermeiden. Zudem zitiere ich nicht chronologisch aus dem Buch, sondern munter kreuz und quer. Sogar Konjunktive habe ich geändert, wo es mir geboten erschien. All dieses Feinschleifen soll einzig dem Zweck dienen, die Verständlichkeit für den heutigen Leser zu optimieren.

Und über allem schwebt der zentrale Rat: Lesen Sie das Original!


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