Technik-Philosophie: Der überschnelle Computer
Wenn Digitales die Realität überholt
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
New York, 6. Mai 2024. Das Passagierflugzeug einer Schweizer Fluggesellschaft dockt am Flughafen JFK an, kann aber nicht sogleich regulär verlassen werden, da es einen medizinischen Notfall an Bord gibt. Die Abwicklung des Ausstiegs und der Ausladung verzögert sich um eine Stunde. Genau diese Stunde aber war auch wie jede andere – selbstredend – verplant. An genau dem „Finger“, der nun erst einmal von der Schweizer Maschine blockiert wird, sollte ein deutscher Airbus A380-800 anschließend abgewickelt werden. Wegen seiner Größe kann er nicht auf einen anderen Standplatz umgeplant werden. Alle Abläufe frieren ein. Der gesamte Flugplan verschiebt sich um eine Stunde.
Der kolportierte medizinische Notfall in der Schweizer Maschine („eine sehr ernste Sache“) zeitigt seine Folgewirkungen. Schlussendlich fliegt der majestätische A380-800 rasant über den Atlantik zurück nach Europa, kann die verlorene Stunde jedoch nicht aufholen. Zeit und Raum haben auch bei mehr als 1.000 Stundenkilometern ihre Grenzen. Hunderte von Passagieren sind von der Verzögerung betroffen. Eine große Teilmenge von ihnen wird ihre geplanten Anschlussflüge nicht rechtzeitig erreichen. Der Kapitän beruhigt sein Publikum: Es werde umgebucht, wo immer es notwendig sei. Alles werde gut. Niemand werde vergessen.
Kurz vor der Landung werden den Passagieren die Umbuchungsergebnisse mitgeteilt. Wer seinen Anschlussflug verpasst, wird professionell auf andere Maschinen umorganisiert. Eine Stunde später, zwei Stunden später, sechs Stunden später, acht Stunden später. Gerade so, wie es auskommt.
Eine solche Umbuchung der Passagiere ist auf der Ebene der Datenverarbeitung eine rein programmierungstechnische Herausforderung. Sind diese Programme einmal geschrieben, können in Sekundenbruchteilen Passagiere ab- und neu angemeldet werden. In emsiger Schnelligkeit orientieren sich die gelandeten Passagiere am Zielflughafen München neu und verteilen sich zeitversetzt schlicht auf andere Abflug-Gates. So weit, so gut.
Im Bauch des A380-800 geschieht allerdings Nicht-Digitales. Sondern fleißige Arbeiter räumen Koffer in großen Mengen um. Koffer, die nicht ihrer ursprünglichen Bestimmung zu einem definierten Flugzeug folgen können, sondern der Umbuchung des Passagiers angepasst werden müssen. Denn anders als Passagiere haben Koffer keine eigenen Beine. Die müssen ihnen per Definition und dann praktischer Umsetzung erst fremdverliehen werden.
Vor vielen Jahren fuhr ich über eine deutsche Autobahn. Auf einem dahinkriechenden Lkw las ich: „Solange man Äpfel nicht per E-Mail verschicken kann, werde ich hier vor Ihnen fahren.“ Nicht anders verhält es sich mit Koffern im Bauch eines Flugzeuges. Den Bestimmungsort eines Passagiers und seines Koffers kann man virtuell schnell ändern. Die Handarbeit aber zur faktischen Umsetzung des neuen Ablaufplans bleibt dieselbe, ob per Papier oder digital verwaltet.
Im allgemein hektischen Gewusel des Flughafens bleiben Koffer stehen. Neue Flugzeuge heben ab, in alle Himmelsrichtungen. Wieder müssen digitale Nachrichten versandt werden: „Ihr Koffer konnte nicht auf die Anschlussmaschine geladen werden. Er folgt Ihnen nach und wird Ihnen in den nächsten Tagen per Lkw an eine zu benennende Adresse nachgeliefert.“
Der gesundheitliche Notfall in einem Schweizer Flugzeug auf dem Flughafen JFK lässt zwei Tage später, am 8. Mai 2024, Lkws nicht nur durch Nordrhein-Westfalen fahren und Koffer Stück für Stück ausliefern. Ein vielleicht nur winzig kleiner Thrombus im Kopf eines Passagiers an Bord der Schweizer Maschine oder eine sonst wie gesundheitlich „sehr ernste Sache“ hat rund um den Globus unzählbare neue Kausalverläufe in Gang gesetzt, von denen die Sorge um den Verbleib von Lieblingssportschuhen die sicher geringste war.
Bedenkt man nur dieses winzige Beispiel, wird klar: Es gibt Menschen, die die ganze Welt planen und umorganisieren wollen. Sie wissen nicht, was sie tun.
Kommentare
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